Zum Tod Joseph Ratzingers "Benedikt wollte Kirche seiner Kindheit bewahren"
01.01.2023, 11:26 Uhr
Mit seinem Rücktritt schrieb Ratzinger Kirchengeschichte.
(Foto: dpa)
Jospeh Ratzingers Wahl zum Papst wurde in Deutschland gefeiert, doch die Begeisterung nutzte der katholischen Kirche in Deutschland wenig. Ihm selbst war sie ohnehin fremd, sagt der Papstkenner Andreas Englisch. Mit seinem Rücktritt habe er der Kirche ein gefährliches Erbe hinterlassen.
ntv.de: Womit wird Papst Benedikt XVI. in Erinnerung bleiben?
Andreas Englisch: Selbstverständlich mit seinem spektakulären Rücktritt. Noch nie trat ein Papst freiwillig zurück, ohne danach fliehen zu müssen. Dass Joseph Ratzinger dafür sorgte, dass zum ersten Mal ein zurückgetretener Papst im Vatikan an der Seite eines amtierenden Papstes lebte, wird die Kirche noch Jahrhunderte beschäftigen.
Hat er damit das Amt des Papstes für immer verändert?
Zweifellos hat der Rücktritt das Amt des Papstes verändert. Möglich war dieser Rücktritt ja kirchenrechtlich schon lange, aber der spektakuläre Präzedenzfall ändert natürlich alles. Päpste können jetzt zum Rücktritt aufgefordert werden. Prinzipiell bedroht die Tatsache, dass es jetzt häufiger einen zurückgetretenen und einen regierenden Papst gleichzeitig geben könnte, das Amt des Papstes selber, weil das Auftauchen von Gegenpäpsten wieder wahrscheinlicher wäre.
Welche Überlegungen standen hinter seinem Rücktritt zu Lebzeiten?
Joseph Ratzinger spürte, dass er den Rückhalt im Vatikan verloren hatte. Eine ganze Reihe von Pannen, die Rehabilitierung des Holocaust-Leugners Bischof Richard Williamson, die verunglückte Regensburger Rede und die Kritik an seinem Umgang mit dem Volk der Juden, hat ihn isoliert.
Welchem seiner Vorgänger fühlte er sich am stärksten verbunden?
Er verehrte Papst Pius X. Er schätzte dessen verzweifelte Versuche, den Ersten Weltkrieg zu verhindern.
Womit hat er nach seinem Rücktritt seine Zeit verbracht?
Mit Lesen und Schreiben, wie sein ganzes Leben lang.
Wie deutsch oder bayrisch hat er sich noch gefühlt?
Joseph Ratzinger hat sich immer nach Hause zurückgesehnt. Mit dem lauten, chaotischen Rom kam er nie wirklich zurecht. Er liebte die Wälder der Alpen, die Traditionen seiner Heimat, speiste nicht in Roms zahlreichen Trattorien, sondern in einem Tiroler Speiselokal, in dem es auch bayrische Kost gab.
Es gab nach seiner Ernennung eine große "Wir sind Papst"-Begeisterung. Inwiefern hat sie der katholischen Kirche in Deutschland genützt?
Zweifellos haben sich in Deutschland viele Menschen von Papst Benedikt begeistern lassen, ich erinnere mich gut an die Gottesdienste in München und Regensburg und die "Benedetto"-Rufe. Dennoch tat sich Deutschland mit diesem Papst schwer. Den Mitgliederschwund der katholischen Kirche konnte er nicht stoppen, aber das wollte er auch gar nicht. Ihm schwebte eine kleinere Kirche der reinen Seelen vor.
Wie hat er selbst diese Begeisterung gesehen?
Joseph Ratzinger war durch und durch Theologe und Wissenschaftler, mit der Begeisterung der Massen konnte er eigentlich nicht viel anfangen.
Welchen theologischen Fußabdruck hat er hinterlassen?
Benedikt XVI. versuchte, die Zeit zurückzudrehen. Seine Entscheidung, die alte Messe wieder aufzuwerten, die auf Latein gelesen wurde und mit dem Priester, der den Gläubigen den Rücken zukehrt, führte die Kirche in eine konservativere Ecke.
Er formulierte bis ins hohe Alter seine ablehnende Haltung gegenüber gleichgeschlechtlichen Ehen und Abtreibungen. Sah er sich selbst als konservativ?
Ohne jeden Zweifel. Benedikt XVI. wollte die Kirche seiner Kindheit bewahren.
Warum hat er sich in der Missbrauchsdiskussion nicht stärker auf die Seite der Opfer gestellt?
Benedikt XVI. hätte für die Opfer sicherlich mehr tun können, aber es gehört zu seinen Verdiensten, die Verdächtigungen gegen Priester endlich ernst genommen zu haben. Gemessen an seinem Vorgänger Papst Johannes Paul II. weigerte er sich, die Vogel-Strauß-Politik des Vatikans, der nichts sehen und nichts hören wollte, fortzusetzen. Joseph Ratzinger hatte bereits in der Amtszeit von Papst Johannes Paul II. im Fall des Sexualstraftäters Kardinal Groer, Erzbischof von Wien, ohne Erfolg ein deutliches Eingreifen der Kirche gefordert.
Mit Andreas Englisch sprach Solveig Bach
Quelle: ntv.de