Tunesiens Präsident tritt ab Ben Ali ergreift die Flucht
14.01.2011, 18:56 UhrDer tunesische Präsident Ben Ali tritt nach den schweren Unruhen in seinem Land zurück. Der 74-Jährige flieht ins Ausland, Ministerpräsident Ghannouchi übernimmt übergangsweise das Amt. Angesichts der andauernden Krawalle herrscht in Tunesien der Ausnahmezustand. Erste deutsche Urlauber kommen unterdessen in der Heimat an.
Der Druck des Volkes war zu groß: Der tunesische Staatschef ist zurückgetreten, wie Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi mitteilte. Ben Ali habe nach 23 Jahren an der Macht das Land verlassen. Ghannouchi erklärte, er habe vorübergehend das Amt übernommen. Er wolle die Verfassung respektieren und die Stabilität im Land wiederherstellen.
Angesichts der anhaltenden sozialen Unruhen in Tunesien hatte Ben Ali zuvor die Regierung aufgelöst sowie vorgezogene Parlamentswahlen binnen sechs Monaten ausgerufen. Zudem hatte er Ghannouchi mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt. Der 69-Jährige ist ein enger Vertrauter Ben Alis. Er ist seit 1999 Ministerpräsident des Mittelmeer-Anrainers.
Ex-Präsident auf dem Weg nach Paris
Der geflohene tunesische Präsident Ben Ali wird unterdessen offenbar auf dem Pariser Flughafen Le Bourget erwartet. Die Polizei bereitet sich dort nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP auf seine Ankunft vor. Eine Gruppe Tunesier protestiert auf dem Flughafen dagegen, dass der zu Fall gebrachte Machthaber dort möglicherweise landen könnte. Der Tunesier habe im Vorfeld keine Bitte um Aufnahme gestellt, betonte Außenministerin Michèle Alliot-Marie. Falls er dies tun werde, wolle Frankreich dies mit den verfassungsgemäßen Autoritäten in der früheren Kolonie Tunesien beraten, fügte sie hinzu.
Nach Informationen der Zeitung "Le Monde" will die französische Regierung die Ankunft Ben Alis verhindern. Eine Maschine mit einer Tochter und einer Enkelin des Ex-Präsidenten sei bereits auf dem Flughafen Le Bourget bei Paris gelandet.
Einer zweite Maschine sei jedoch die Landeerlaubnis verweigert worden. Ben Ali selbst befinde sich in einer dritten Maschine. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy und Premierminister François Fillon waren zuvor zu einer Krisensitzung im Elysée zusammengekommen, um über die Lage in der ehemaligen Kolonie zu beraten.
Wichtigste Flughäfen dicht
Die Ereignisse im Krisenland Tunesien hatten sich im Laufe des Tages überschlagen. Tausende Menschen gingen erneut auf die Straße. In der Hauptstadt Tunis gab es gewalttätige Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizeieinheiten. Dabei wurde auch ein französischer Journalist von einer Tränengasgranate am Kopf verletzt.
Die Behörden verhängten den Ausnahmezustand. Dieser beinhaltet nach Regierungsangaben eine Ausgangssperre zwischen 18.00 Uhr und 6.00 Uhr. Zudem sind Versammlungen an öffentlichen Orten verboten. Armee und Polizei erhielten das Recht, auf "Verdächtige" zu schießen, die sich den staatlichen Anordnungen widersetzen.
Die Armee hat die Kontrolle über den Flughafen der Hauptstadt Tunis übernommen. Gepanzerte Fahrzeuge hätten den Flughafen umstellt. Die wichtigsten Flughäfen Tunesiens sind nach Angaben der französischen Luftfahrtbehörde gesperrt. Überflüge über das nordafrikanische Land seien aber weiter möglich. Eine vollständige Sperrung des Luftraums habe Tunesien nicht verhängt.
Merkel besorgt
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich über die Eskalation in Tunesien besorgt geäußert. "Die Lage in Tunesien ist ausgesprochen ernsthaft. Es zeigt sich, dass der Stillstand - die Situation im Lande - die Menschen sehr ungeduldig gemacht hat", sagte Merkel vor dem Beginn der Klausurtagung des CDU-Bundesvorstandes in Mainz.
Die Bundesregierung werde sich nun besonders um die Deutschen kümmern, die sich noch in dem nordafrikanischen Land befänden. "Wir werden unseren Einfluss gelten machen, dass dort möglichst die Dinge friedlich vonstattengehen und möglichst wenige menschliche Opfer zu beklagen sind", sagte die Kanzlerin. Bundesaußenminister Guido Westerwelle nannte die Lage in dem nordafrikanischen Land "besorgniserregend"."Gebot der Stunde" müssten jetzt "jeglicher Gewaltverzicht und Besonnenheit" sein, erklärte Westerwelle.
Wegen der instabilen Lage in Tunesien ruft die Bundesregierung deutsche Urlauber zu erhöhter Wachsamkeit auf. "Wir raten unseren Staatsangehörigen vor Ort, sich vorsichtig zu verhalten und Menschenansammlungen zu vermeiden", erklärte der Außenminister. Das Auswärtige Amt sei im Kontakt mit den Reiseveranstaltern. Von Reisen in das nordafrikanische Land riet er ab.
"Respekt demonstrieren"
Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hat sich beunruhigt über die Gewalt in Tunesien gezeigt. Mit Nachdruck mahnte er zu Zurückhaltung und forderte alle Parteien auf, durch Gespräche eine friedliche Lösung zu finden. Er beobachte die Anspannungen "mit Sorge" und sei betrübt über den Tod vieler Demonstranten.
Der UN-Chef versicherte im UN-Hauptquartier, dass er Gespräche mit Vertretern führen werde und drängte alle Beteiligten, "Respekt für die Meinungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit" zu demonstrieren.
Erste Tunesien-Urlauber wieder zurück
Reiseveranstalter schätzen, dass sich etwa 7.000 Urlauber über deutsche Anbieter in Tunesien aufhalten. Für Kunden, die ihren Urlaub in dem nordafrikanischen Land gebucht haben, bieten viele Veranstalter Umbuchungen an.
Der Reiseveranstalter Thomas Cook holt unterdessen die ersten Tunesien-Urlauber zurück. Angesichts der zahlreichen Flughafen-Sperrungen verzögere sich jedoch die Heimkehr eines großen Teils der rund 2000 deutschen Reisenden. 100 Urlauber sind mit einer Air-Berlin Maschine aus Djerba in die Heimat zurückgekehrt und sicher gelandet. Zwei Maschinen der Germania mit insgesamt 114 Passagieren sind in Berlin-Tegel angekommen.
Proteste konzentrieren sich auf Regime
Der 74-Jährige Ben Ali deutete vor seinem Rücktritt in einer Fernsehansprache an, bei der Präsidentschaftswahl 2014 nicht mehr zu kandidieren. Er habe nicht die Absicht, die in der Verfassung des Landes festgelegte Altersgrenze von 75 Jahren heraufzusetzen, versicherte Ben Ali. Die Unruhen hielten trotz dieser Ankündigungen an.
Die Proteste, die sich ursprünglich gegen die hohe Arbeitslosigkeit richteten, konzentrierten sich immer mehr auf das Regime Ben Alis, der das Land seit 23 Jahren autoritär regiert. Nach Angaben von Menschenrechtlern kamen bei den blutigen Unruhen bisher mindestens 66 Menschen ums Leben.

Ministerpräsident Ghannouchi (Mitte) verkündet im tunesischen Fernsehen den Rücktritt des Präsidenten.
(Foto: REUTERS)
Angesichts der anhaltenden Proteste in Tunesien hatte Ben Ali die Sicherheitskräfte zudem zu Zurückhaltung aufgerufen. Er habe das Innenministerium angewiesen, auf "ungerechtfertigte Waffengewalt" zu verzichten, erklärte der Präsident in seiner Fernsehansprache. Zugleich kündigte er Preissenkungen für Grundnahrungsmittel und die Aufhebung der Internetzensur an. Bereits kurz nach der Rede waren zuvor gesperrte Onlineseiten wie Youtube wieder erreichbar.
"Ich bin traurig"
Die Ansprache des Präsidenten fiel sehr emotional aus. Ben Ali wirkte zerknirscht und den Tränen nah. Er sprach erstmals im lokalen Dialekt und verzichtete auf das klassische Arabisch. Ben Ali warf Gefolgsleuten vor, ihn hintergangen zu haben. "Sie haben mich getäuscht", erklärte er. "Ich verstehe die Tunesier, ich verstehe ihre Forderungen", betonte er. "Ich bin traurig über das, was jetzt passiert nach 50 Jahren im Dienst für das Land."
Nach der Ansprache strömten Augenzeugen zufolge Hunderte von Menschen trotz einer Ausgangssperre in Tunis auf die Straßen. Nationalflaggen wurden geschwenkt, Hupkonzerte ertönten. "Es lebe Ben Ali" und "Danke Ben Ali", schallte es durch die Hauptstadt. "Wir haben diese Rede nicht erwartet", sagte ein Mann. "Das wichtigste ist: Freiheit, Freiheit, Freiheit!" Mit Najib Chebbi äußerte sich auch ein wichtiger Oppositionspolitiker positiv. "Die neue Politik in der Rede war gut, und wir warten auf die konkreten Details", erklärte er und forderte die Bildung einer Regierungskoalition.
Vor der Rede hatten die Unruhen das Zentrum von Tunis erfasst. In der Nacht wurde Augenzeugen zufolge erstmals in der Hauptstadt ein Mann bei Zusammenstößen von Demonstranten und der Polizei getötet. Augenzeugen berichteten ferner, dass in der Stadt Sliman etwa 40 Kilometer südlich von Tunis zwei junge Männer bei Zusammenstößen mit der Polizei erschossen worden seien. Dem internationalen Menschenrechtsbündnis FIDH zufolge kamen in der Nacht acht Menschen ums Leben, 50 wurden verletzt.
Quelle: ntv.de, fma/dpa/rts/AFP