Grüne Realpolitikerin Andreae im Interview "Die Partei ist tief verunsichert"
21.10.2013, 08:35 Uhr
Kerstin Andreae: "Wir werden präzisieren, welche Aufgaben der Staat leisten und welche Rahmenbedingungen er dafür schaffen muss. Die Leitplanken dürfen nicht zum Korsett werden.
(Foto: picture alliance / dpa)
Ein bitteres Ergebnis bei der Bundestagswahl. Eine neue Führungsspitze mit schwachem Mandat. Die Grünen stecken in einer Krise. Kerstin Andreae spricht mit n-tv.de über die schwierige Suche ihrer Partei nach neuen Themen, über die großen Fußstapfen von Jürgen Trittin und die Frage, ob die Grünen bald das Schicksal der FDP ereilt.
n-tv.de: Ergeht es den Grünen mit der Ökologie wie der FDP mit dem Liberalismus? Die FDP hob umso deutlicher hervor, dass der Liberalismus ihr Leitgedanke sei, je größer ihre Krise wurde. Die Grünen haben auf ihrem Parteitag in Berlin nun auffällig häufig verkündet, dass sie ihre Politik aus der Ökologie heraus denken müssen.
Kerstin Andreae kam 1968 in Schramberg im Schwarzwald zur Welt. Schon 1990 trat sie bei den Grünen ein. Von 1991 bis 1993 war sie im Landesvorstand der Grün-Alternativen Jugend in Baden-Württemberg. Nach ihrem Studium der Politischen Wissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Freiburg übernahm sie einen Posten im Landesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen.
Seit 2002 sitzt Andreae im Bundestag. 2012 übernahm sie den Posten der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden. Nach der Wahl im September bewarb sie sich um den Fraktionsvorsitz. Sie unterlag Katrin Göring-Eckardt.
Andreae ist Mitglied des Realo-Flügels der Grünen. Sie ist bekannt für ihre guten Kontakte zur Wirtschaft. Die Mutter von zwei Söhnen und einer Tochter ist mit dem ehemaligen Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, Volker Ratzmann, verheiratet.
Kerstin Andreae: Ich habe keine Angst, dass uns das Schicksal der FDP ereilt. Die Ökologie ist tatsächlich der grüne Anker, von dem sich vieles ableitet – Gerechtigkeitsfragen, globale Fragen, aber auch Themen wie Arbeitskräfte, Fragen der ökonomischen Entwicklung, der Wertschöpfung. Ökologie ist zentral für den Erhalt der Lebensgrundlage. Daher ist sie ein urgrünes Thema.
Wie beim Liberalismus ist es aber auch mit der Ökologie so, dass andere Parteien diesen Gedanken aufgreifen und besetzen.
Sie setzen ihn aber nicht gut um. Die SPD verabschiedet sich von den ökologischen Themen. Die CDU redet von Klimaschutz, handelt in Brüssel aber dagegen. Keine der Parteien setzt sich so kraftvoll für Umwelt- und Klimaschutz ein, wie es notwendig ist. Das gilt besonders für die Energiepolitik. Jetzt muss doch dem Atomausstieg der Kohleausstieg folgen. Wir brauchen Klarheit, wie Energieversorgung in Zukunft aussehen soll. Die sehe ich weder bei der SPD noch bei der CDU.
Hat sich jenseits der Ökologie ein neues Thema für die Grünen aufgetan?
Die Frage der Rolle des Staates ist nicht wirklich ein neues Thema, aber wir müssen es nochmal neu für uns besetzen. Wie viel Staat wollen wir? Wie freiheitsliebend sind wir und wo sind die Grenzen der Freiheit? Wie ist das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Staat? Wir Grünen kommen aus de Tradition, nicht den Staat alles machen zu lassen, sondern die Dinge selbst in die Hand zu nehmen: Kinderläden, freie Schulen, solidarische Ökonomie bis hin zu den Bürgergenossenschaften bei der Energieversorgung.
Wie würden Sie dieses Thema konkret inhaltlich füllen?
Wir werden präzisieren, welche Aufgaben der Staat leisten und welche Rahmenbedingungen er dafür schaffen muss. Freiheit und Selbstbestimmung sind dabei zentrale grüne Elemente. Die Leitplanken dürfen nicht zum Korsett werden.
Gibt es jetzt neue Kräfteverhältnisse unter den grünen Flügeln, den Linken und ihren Realos, die ja maßgeblich eine Öffnung der Partei vor allem zur Wirtschaft forderten aber auch zu schwarz-grünen Koalitionen?
Wir haben eine Diskussion über das Wahlergebnis geführt, aber vor allem über die künftige Neuausrichtung der Grünen. Festzuhalten ist, dass wir die Anschlussfähigkeit deutlich nach vorne stellen wollen und dass wir offener werden wollen für mögliche Koalitionen. Festzuhalten ist aber auch, dass wir die Grünen insgesamt stärken und nicht den einen oder anderen Flügel.
Zur Neuausrichtung der Grünen gehört auch der Personalwechsel. Die Wehmut war gewaltig, als Claudia Roth am Samstag ihren Abschied feierte.
Ich gehöre zum Fanclub von Claudia Roth. Ich finde sie hinreißend und eine authentische Politikerin. Als Bundesvorsitzende hat sie die Partei über ein ganzes Jahrzehnt geprägt.
Auch Jürgen Trittin hat sich auf dieser Delegiertenkonferenz aus der Parteispitze verabschiedet. Zwei prägende Charaktere. Ist die neue Spitze auch so prägnant?
Das wird sich entwickeln. Jeder Einzelne hat Stärken und besondere Eigenschaften, alle sind sehr authentische grüne Politiker. Aber die Fußstapfen von Trittin, Roth und Künast sind groß. Ich würde jedem von ihnen empfehlen, da nicht hineintreten zu wollen, sondern den eigenen Weg zu gehen.
Wie erklären Sie sich das relativ schwache Ergebnis für die neuen und wiedergewählten Bundesvorsitzenden, Simone Peter und Cem Özdemir?
Ich glaube, die Partei ist noch tief verunsichert durch das Wahlergebnis. Viele Fragen sich noch: Wo geht es jetzt eigentlich hin?
War der Führungswechsel konsequent genug? Die neue Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt und der wiedergewählte Parteivorsitzende Cem Özdemir haben den gescheiterten Wahlkampf schließlich angeführt.
Entscheidend bei einem Führungswechsel ist, dass Kontinuität und Erneuerung zusammenkommen. Wir haben dies nun geklärt und ich bin dem Ergebnis völlig einverstanden, obwohl ich ja für den Fraktionsvorsitz kandidiert habe. Es gilt jetzt, Kräfte zu bündeln und die Personen in der ersten Reihe vorbehaltlos zu unterstützen.
Mit Kerstin Andreae sprach Issio Ehrich
Quelle: ntv.de