"Sie sind jung und hungrig" Die Türken kommen
01.03.2012, 11:25 Uhr
Die Türkei, wie sie viele aus dem Urlaub kennen. Doch die Türkei wird auch als wirtschaftlicher Konkurrent in Europa an Bedeutung gewinnen, sagt Inan Türkmen.
(Foto: REUTERS)
Der in Wien lebende 24-jährige Inan Türkmen repräsentiert eine neue Generation von jungen Türken in Europa. Sie sind gebildet, sie sind hungrig, sie wollen sich selbst und ihre Heimat voranbringen. Türkmen hat dieser neuen Bewegung mit dem nun erschienenen Buch "Wir kommen" Ausdruck verliehen. "Diese junge Generation will etwas bewegen", sagt Türkmen im n-tv.de-Interview.
n-tv.de: Ihr Buch über die Türkei heißt: "Wir kommen". Was erwartet Europa?
Inan Türkmen: Der Einfluss und die Stärke der Türkei wird wachsen - und zwar gleichgültig ob Europa uns integrieren will oder nicht.
Ist das eine Kampfansage? Muss Europa Angst haben?
Nein, es muss sich niemand fürchten. Wir reden ja nicht von einem Krieg oder einer Schlacht, sondern von einem friedlichen Kampf, der sich in den letzten Jahren entwickelt hat. Aber der bringt Vorteile für die Türkei ebenso wie für die anderen europäischen Länder. Beide Seiten werden davon lernen und profitieren.
Inwiefern?
Sehen Sie sich die Einkaufsstraßen in den großen westeuropäischen Städten an. In Hamburg, in Berlin, in München: Da finden Sie türkische Designermode, türkische Geschäfte, da befruchten sich die Kulturen. Aber die deutsche Wirtschaft verdient auch in der Türkei mit. Immer mehr Firmen nisten sich in der Türkei ein und profitieren vom Aufschwung. In der Türkei sind rund 4700 deutsche Firmen aktiv, die fast fünf Milliarden Dollar investiert haben.
Woher rührt diese neue Kraft, die die Türkei entwickelt?
Die Türkei ist ein sehr junges Land. Viele Jugendliche denken sehr viel demokratischer als es noch vor einigen Jahren der Fall war. Sie sind hungrig, weil sie ohne den Wohlstand aufgewachsen sind, den viele in Europa kennen. Das sehen wir als selbstverständlich an: ein gutes Bildungssystem, soziale Sicherungssysteme. All das gab es in der Türkei lange Zeit nicht und ist jetzt erst im Kommen. Wer sich da durchkämpft geht daraus gestärkt hervor.
Aber sie sagen es: In vielen Bereichen holt die Türkei auf. Was schützt die Türken davor, auch irgendwann mal satt zu werden?
Bis ein Wohlstand wie in Europa in der Türkei eintritt, werden noch einige Jahre vergehen. Es wird auch wieder Rückschläge geben. Aber diese junge Generation will etwas bewegen. Und ich glaube, das wird auch klappen.
Eigentlich könnte ihr Buch auch "Wir gehen" heißen. Denn Sie beschreiben auch die Abwanderungstendenzen in Europa aufgewachsener Türken. Warum wenden sich immer mehr von ihrer neuen Heimat ab?
Wer hier in Europa ausgebildet worden ist, hat in einem Land wie der Türkei, das sich gerade im Aufbau befindet, sehr viele Möglichkeiten. Du wirst dort sehr geschätzt und sehr hoch angesehen.
Aber haben Deutsch- und Österreich-Türken der zweiten und dritten Generation nicht auch Wurzeln hier.
Natürlich. Freunde und Familie sind hier. Aber viele sagen: Ich halte es nicht mehr aus, dass ich, obwohl ich die gleiche Ausbildung habe, wie andere, immer schief angesehen werde. Sie müssen mit Rassismus kämpfen, mit Vorurteilen. Wieso soll ich in einem Land bleiben, in dem mich viele nicht wollen. Wo populistische Politiker die Menschen gegen mich aufhetzen, wo Leute wie Thilo Sarrazin Bücher schreiben, in denen sie Moslems als minderwertig darstellen und damit so großen Erfolg haben.
Es klingt schon durch: Ihr Buch ist auch aus der Wut heraus entstanden, als Türke in Österreich unterschätzt und diskriminiert zu werden.
Ja, das ist leider so. Ich bin in Österreich geboren und aufgewachsen, ich spreche die deutsche Sprache. Trotzdem war ich oft enttäuscht von Menschen, die sich abfällig über meine Herkunft geäußert haben. Müssen solche Beschimpfungen denn heutzutage noch sein? Und die Medien zeigen immer wieder nur negative Seiten der Türkei - die es zweifelsohne auch gibt -, aber ein ausgewogenes Bild zeigen sie nicht. Mit meinem Buch will ich den Leuten die Türkei so zeigen, wie ich sie kenne, wie ich sie erlebt habe, frei von reinen Klischees.
Welches ist denn das hartnäckigste Klischee über Türken in Europa?
Eines, das mich immer wieder stört, ist die Aussage, Frauen hätten in der Türkei keine Rechte. Ganz klar: Es gibt frauenrechtliche Probleme in der Türkei. Viele Frauen, gerade in ländlichen Regionen, haben wenig zu sagen, haben oft keine Chance auf Bildung. Was aber viele nicht wissen: Der Anteil an Frauen im Topmanagement türkischer Firmen ist fast fünfmal so hoch wie im Rest Europas. Das bezieht sich zwar auf urbane Zentren, aber in dieser Hinsicht entwickelt sich etwas. Mit der jungen Generation wandelt sich auch die Situation der Frauen in der Türkei.
Ihr Buch wird auch als Gegenthese zu Thilo Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" beworben. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie die Streitschrift Sarrazins gelesen haben?

Ich selbst bin kein traditionell gläubiger Moslem, sondern Alevit. Deswegen trifft mich Sarrazins Islamkritik nicht direkt. Aber diese Argumentationskette ist allein schon eine Frechheit: Die Dummen paaren sich mit den Dummen. Und die Kinder, die daraus entstehen, sind noch dümmer. Und diese Dummen sind Moslems und Türken, die daran schuld sind, dass es Europa schlecht ergeht. Das zu lesen tut schon weh.
Mit Inan Türkmen sprach Johannes Graf
Quelle: ntv.de