Politik

Ukraine bei "Hart aber fair" "Dieser Sommer wird ein Kriegssommer"

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"Es darf kein Gewöhnen an diesen Krieg geben", sagt Michael Müller bei Plasberg.

"Es darf kein Gewöhnen an diesen Krieg geben", sagt Michael Müller bei Plasberg.

110 Tage sind vergangen, seit Russland die Ukraine überfallen hat. Während dort immer noch täglich Menschen um ihr Überleben bangen, lässt das Interesse hierzulande nach. Das ist ganz normal, sagen Experten. Bei "Hart aber fair" sprechen die Gäste unter anderem darüber, ob die Deutschen kriegsmüde sind.

Es wird Sommer. Das Wetter ist schön, in dieser Woche steigen die Temperaturen in Teilen Deutschlands auf über 30 Grad. Viele von uns machen sich Gedanken: Urlaub auf Mallorca oder doch lieber am Baggersee? Über die hohen Benzin- und Lebensmittelpreise wird diskutiert und darüber, was am Abend auf den Grill kommt. Geburtstagsfeiern und Hochzeiten, die durch die Corona-Pandemie verschoben werden mussten, werden nachgeholt.

Und was war eigentlich nochmal in der Ukraine? Dort sterben Menschen. Mehr als 10.000 waren es in den letzten drei Monaten. Etwa eine Million Ukrainer wurden aus den von Russland besetzten Gebieten verschleppt, darunter 180.000 Kinder. Doch wenn etwas vom Ukrainekrieg in der Zeitung steht, wird schnell zum nächsten Artikel geblättert. Die Bilder des Grauens im Fernsehen nimmt man kaum noch wahr. Wir haben gelernt, damit zu leben.

"Wir dürfen diesen Krieg nicht einfach vergessen"

Das ist ganz normal, sagt der Soziologe Armin Nassehi in der ARD-Sendung "Hart aber fair" am Montagabend. Er nennt diesen Zustand "Aufmerksamkeitsökonomie" und erklärt: "Eine ständig wiederholte Information hat immer weniger Informationswert." Das gelte für alle Krisen, ob Ukraine-Krieg, Corona-Pandemie oder Klimaerwärmung: "Unser Leben ist stärker zyklisch am Alltäglichen orientiert, so dass es schwerfällt, sich mit Dingen, die unseren Alltag mehr indirekt als direkt betreffen, permanent auseinanderzusetzen." Kurz gesagt: Wenn uns etwas nicht direkt betrifft, lässt das Interesse irgendwann nach. Assehi: "Wir gewöhnen uns irgendwann an schreckliche Bilder. Das ist nicht gut, aber man kann nichts dagegen tun."

Die in der Ukraine geborene Wissenschaftlerin und Aktivistin Oleksandra Bienert stimmt zu. Auch ihr selber passiert das schon mal. Aber sie sagt: "wir dürfen diesen Krieg nicht vergessen." Für sie ist klar: "Dieser Sommer wird ein Kriegssommer in Europa."

Die Sicherheitsexpertin Claudia Major beschäftigt sich täglich mit dem Krieg in der Ukraine und sie sagt: "Man muss den düsteren Bildern mit einer analytischen Distanz begegnen, um damit umgehen zu können." Umso wichtiger sei es, dass sich der Westen der Gewöhnung an den Krieg stellen müsse. Das sei gerade das, worauf der russische Präsident Wladimir Putin abziele. "Russland spekuliert darauf, dass wir nicht gewillt sind, die Kosten (für Krieg und Sanktionen) zu zahlen, weil wir verweichlicht sind."

Auch der SPD-Außenpolitiker Michael Müller sagt: "Es darf kein Gewöhnen an diesen Krieg geben." Darum sei es Aufgabe von Politik und Medien, die Meldungen darüber hinauszutragen. Genau wie der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen hat er jedoch noch keine Abstumpfung bei den Menschen wahrgenommen. Röttgen berichtet, seine Veranstaltungen, in denen er über den Krieg informiert, seien immer gut besetzt. Trotzdem: "Wir haben eine moralische Pflicht den Opfern gegenüber, gegen das Vergessen anzukämpfen." In der Ukraine werde das Schicksal Europas entschieden. Sollte Putin den Krieg gewinnen, werde es ein anderes Europa sein.

"Beim Bundeskanzler Entwicklung nach oben möglich"

Jetzt müsse endlich klar ein Kriegsziel definiert werden, fordert Claudia Major. "Wenn das Ziel ist, dass die Ukraine als souveräner Staat überleben soll, muss man das sagen. Und dann muss man die Schritte definieren, wie man dahin kommt, und zwar finanziell, politisch und militärisch. Das ist eine Führungsaufgabe. Und da ist beim Bundeskanzler noch eine deutliche Entwicklung nach oben möglich", sagt Major. Sie würde sich wünschen, dass der Westen die militärischen Lieferungen mehr danach ausrichte, was die Ukraine wirklich braucht. Laut ukrainischem Geheimdienst kämen derzeit auf ein ukrainisches Artilleriegeschütz 10 bis 15 russische. "Die Ukrainer können sich nicht wehren, das muss man klar sagen. Sie können der unheimlichen russischen Feuermacht fast nichts mehr entgegensetzen."

"Die Frage liegt zwischen Krieg und Frieden", sagt Röttgen und kritisiert die Kommunikation von Bundeskanzler Scholz. Der müsse endlich sagen, was er wolle. "Politische Führung ist in solchen extremen Ausnahmesituationen unabdingbar."

Auch Müller sieht ein: "Die Kommunikation kann und muss verbessert werden." Der SPD-Mann beklagt jedoch, dass bei der Diskussion über die militärische Hilfe für die Ukraine die Frage nach möglichen Verhandlungen in den Hintergrund trete. Verhandlungen habe es vor dem Krieg gegeben, erinnert Major. Und sie sagt: "Wir müssen es weiter probieren, aber Russland ist kein Land, das diesen Krieg mit Verhandlungen oder dem Scheckbuch lösen will. Es geht um Macht, um Gewalt und um Ideologie. Das müssen wir anerkennen. Die Ukraine hat nicht die Wahl zwischen Krieg und Frieden. Sie hat die Wahl zwischen Krieg und Besetzung."

"Zugeständnisse werden wir nicht machen"

Für Röttgen geht es nicht nur um einen Sieg der Ukraine. Er sagt: "Wir müssen den Krieg aus Europa verbannen."

Das ist wichtig für Oleksandra Bienert. Doch für die Wissenschaftlerin, die auch Beiträge auf der Website Ukraine verstehen veröffentlicht, geht es auch um ihr eigenes Land. Und sie sagt, wie sie sich einen Sieg vorstellt: "Wir werden keine Zugeständnisse machen. Wir werden die Waffen aus dem Westen bekommen, weil es um unseren Existenzkampf geht, und den werden wir nicht aufgeben. Es geht in diesem Krieg nicht nur um Territorien. Es geht um die Menschen, die getötet, vergewaltigt oder verschleppt werden. Russland zerstört unsere Zukunft. Aber die Ukraine bleibt bestehen in den Grenzen, die Russland 1991 und 1994 anerkannt hat und die bis 2014 galten."

Quelle: ntv.de

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