Streit um Kavala eskaliert Erdogan: Deutscher Botschafter unerwünschte Person
23.10.2021, 16:15 Uhr
Mehrere Botschafter in der Türkei, darunter der Vertreter Deutschlands, protestieren gegen die Haft des Kulturförderers Kavala. Präsident Erdogan empfindet das als Provokation und erklärt mehrere Diplomaten zu unerwünschten Personen. Deutsche Politiker erkennen eine Abwendung und fordern teils Sanktionen.
Die Türkei erklärt die Botschafter Deutschlands, der USA und mehrerer anderer Staaten zu unerwünschten Personen. Er habe das Außenministerium dazu angewiesen, erklärt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Auf die Einstufung als "persona non grata" folgt in der internationalen Diplomatie in der Regel die Ausweisung.
Der türkische Staatschef nannte aber keine Frist. "Sie müssen die Türkei kennenlernen und lernen, sie zu verstehen", sagte Erdogan über die zehn Botschafter und warf ihnen "Unanständigkeit" vor. "Sie müssen hier verschwinden, wenn sie die Türkei nicht verstehen." Hintergrund ist der Streit um den inhaftierten Kulturförderer Osman Kavala.
Seit der Ankündigung des türkischen Präsidenten berät sich das Auswärtige Amt Kreisen zufolge mit den anderen betroffenen Ländern. Aus dem Ministerium hieß es am Abend: "Wir haben die Äußerungen des türkischen Staatspräsidenten Erdogan sowie die Berichterstattung hierüber zur Kenntnis genommen und beraten uns derzeit intensiv mit den neun anderen betroffenen Ländern." Schweden, Norwegen und die Niederlande - deren Botschafter das Dokument ebenfalls unterzeichnet hatten - erklärten, keine offizielle Mitteilung von der Türkei erhalten zu haben. "Unser Botschafter hat nichts getan, was die Ausweisung rechtfertigen würde", sagte eine Sprecherin des norwegischen Außenministeriums.
Botschafter hatten Freilassung Kavalas gefordert
Die Botschafter hatten Anfang der Woche in einem gemeinsamen Appell zur Freilassung des seit vier Jahren ohne Verurteilung im Gefängnis einsitzenden Kulturförderers Kavala aufgerufen. Als Folge hatte die Türkei die Botschafter einbestellt und mit deren Ausweisung gedroht. Ankara bezeichnete den Aufruf der Länder zur Freilassung des Kulturförderers Kavala als "inakzeptabel".
Der Menschenrechtsaktivist war ursprünglich wegen des Vorwurfs festgenommen worden, die regierungskritischen Gezi-Proteste in Istanbul im Jahr 2013 finanziert und organisiert zu haben. Im Februar vergangenen Jahres sprach ein Gericht ihn von diesem Vorwurf frei. Kavala wurde daraufhin nach zweieinhalb Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen, jedoch wenige Stunden später erneut festgenommen - diesmal im Zusammenhang mit dem Putschversuch gegen Erdogan im Jahr 2016 und Spionagevorwürfen.
Kritik an Erdogan aus FDP, CDU und von den Grünen
Deutsche Politiker verurteilten das türkische Vorgehen am Samstagabend scharf. Der FDP-Außenpolitiker Alexander Graf Lambsdorff schrieb auf Twitter, eine mögliche Ausweisung von zehn Botschaftern "wäre unklug, undiplomatisch und würde den Zusammenhalt des Bündnisses schwächen." Daran könne Erdogan kein Interesse haben. Von einer "außenpolitischen Eskalation" sprach der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen gegenüber der "Süddeutschen Zeitung". Erdogan "führt sein Land damit weiter in die umfassende Abwendung von Europa und dem Westen".
Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth forderte Sanktionen: "Erdogans skrupelloses Vorgehen gegen seine Kritiker wird zunehmend enthemmt", sagte die Grünen-Politikerin. Man müsse dem "autoritären Kurs Erdogans international die Stirn bieten", Sanktionen erlassen und Rüstungsexporte in die Türkei stoppen.
Auch der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kritisierte Erdogans Äußerungen scharf. Erdogan wolle mit dem Schritt nicht etwa nationale Interessen vertreten, sondern von der desolaten wirtschaftlichen Situation ablenken, schrieb er auf Twitter.
Wird Kavala Gerichtsverhandlung boykottieren?
Der Kulturförderer Kavala befindet sich indessen in einer misslichen Lage. Im Januar dieses Jahres hob ein Berufungsgericht den ersten Freispruch auf. Bei einer Verurteilung wegen der Spionagevorwürfe droht Kavala lebenslange Haft. Seine nächste Gerichtsverhandlung ist für den 26. November angesetzt. Zuletzt hatte der 64-Jährige angekündigt, nicht mehr an Gerichtsverhandlungen teilnehmen zu wollen. "Die erniedrigenden und verleumderischen Aussagen des Präsidenten gegen eine nicht verurteilte Person, deren Prozess noch läuft, sind ein Angriff auf die Menschenwürde", ließ Kavala am Freitag über seine Anwälte mitteilen. Diese nähmen direkten Einfluss auf die Gerichtsbarkeit. Kavala hatte Erdogan vorgeworfen, seine Inhaftierung politisch zu nutzen. "Der wahre Grund für meine fortgesetzte Inhaftierung" sei das "Bedürfnis der Regierung, die Fiktion am Leben zu erhalten, dass die Gezi-Proteste das Ergebnis einer ausländischen Verschwörung waren", erklärte Kavala.
Erdogan hatte Kavala am Vortag ein "Soros-Überbleibsel" genannt - unter Bezug auf den US-Philantropen und Investor George Soros, dem Feindbild vieler Populisten. Der in Paris geborene Kavala gehörte zu den Gründern des türkischen Zweigs der Open Society Foundation des US-Milliardärs. Kavala betreibt einen der größten Verlage der Türkei und setzt sich mit seiner Organisation Anadolu Kültür für den Dialog der Volksgruppen etwa im Kurden-Konflikt oder mit den Armeniern ein.
Quelle: ntv.de, vpe/dpa/AFP