Die Presse "Feigheit, dein Name ist Müller"
22.03.2002, 22:08 UhrEinen Tag nach dem dramatischen Eklat im Bundesrat kommentieren die Zeitungen der Republik die Vorgänge in der Länderkammer sehr unterschiedlich.
Die "Süddeutsche Zeitung" (München) kritisiert das ihrer Ansicht nach verlogene Verhalten der Union:
"Der gestrige Tag im Bundesrat war ein übler, ein schwarzer Tag für die deutsche Innenpolitik. Es ist von Übel, wie Gegensätze herbeigeredet werden, die nicht vorhanden sind; zwischen dem neuen Zuwanderungsgesetz und der Union liegen nicht Lichtjahre, sondern nur der Wahlkampf. Es ist von Übel, wie der CSU-Machiavellismus das Klima mit Angstschür-Zahlen rabiatisiert. Unions-Kanzlerkandidat Stoiber spricht von 600.000 jährlich zu integrierenden Zuwanderern - wobei der Zuwanderungsssaldo seit geraumer Zeit bei etwa 86.000 liegt. Es ist von Übel, wie der saarländische CDU-Ministerpräsident sich aus parteitaktischen Gründen selbst verleugnet und ein Gesetz ablehnt, das ziemlich genauso aussieht, wie er es einst selbst vorgeschlagen hat: Feigheit, dein Name ist Müller."
Die "tageszeitung" (Berlin) sieht das ganz ähnlich:
"Statt einer Sternstunde der Demokratie präsentierte der Bundesrat (...) schwer verdauliche deutsche Hausmannskost, vorgetragen von ausländerpolitischen Hardlinern wie dem hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch. Er und die anderen Ministerpräsidenten der CDU präsentierten sich als brave Soldaten, die der Parteiräson und weniger ihrem Verstand verpflichtet waren. Selbst Peter Müller, vor kurzem noch aufgeklärter migrationspolitischer Vordenker der Union, gesellte sich zum Scharfmacher Roland Koch. Die Wandlung des Peter Müller räumte jeden Zweifel aus: Die Union hat sich nicht verändert. Wie in der Vergangenheit wird sie auch bei diesem Wahlkampf auf das mobilisierende Hetzthema Ausländer setzen, wenn es die Chancen Edmund Stoibers erhöht, das Kanzleramt zu stürmen."
Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" sieht den Kanzlerkandidaten der Union als klaren Verlierer des Tages:
"Stoiber steht nun vor einer schwierigen Situation. Es bliebe ihm eigentlich nur die Wahl, Einwanderung weiterhin inhaltlich zu thematisieren, wenn er dabei bleibt, es gehe ihm allein um die Sache. Das allerdings führt in die Sackgasse. Wenn sich Stoiber als Kandidat der Mitte präsentieren will, kann er nicht gegen Kirchen, Arbeitgeber, Gewerkschaften und Verbände Wahlkampf machen. Tut er es doch, begibt er sich in eine Ecke, in der er dem Bundeskanzler kaum noch gefährlich werden kann. Schröder wird sagen, 'die Vernünftigen' haben sich durchgesetzt. Seine Gegner werden klagen, die Mächtigeren haben sich durchgetrickst. SPD und Grüne werden verhalten feiern. Es war dramatisch knapp. Aber es war ein glücklicher Tag für die Koalition. "
Der "Münchner Merkur" übt dagegen scharfe Kritik an der Bundesregierung:
"Nun ist es also durch, das umstrittene Zuwanderungsgesetz. Zumindest vorerst: dank eines gebrochenen Koalitionsvertrags, dank einer mehr als bedenklichen Stimmenwertung, dank juristischer Klimmzüge, die ein Nachspiel vor dem Bundesverfassungsgericht haben müssen. Ein Gesetz auf dieser Basis ist nichts wert. Worum geht es eigentlich: Um eine vernünftige Zuwanderungs-Regelung oder um das Durchprügeln eines von Schein-Ethik geprägten und unausgegorenen Gesetzes? Die Abstimmung in der Länderkammer hat es deutlich gemacht: Nicht die Problem-Lösung, sondern blanke Partei-Interessen haben in der Koalition Vorrang."
Die "Welt" (Berlin) nimmt den Streit in der Länderkammer zum Anlass, für mehr Zentralismus und eine große Koalition zu plädieren:
"Viele Erscheinungsformen des deutschen Föderalismus sind nicht geeignet, den Bürger für die demokratische Teilhabe zu begeistern. Die vielfach verschränkten, für viele kaum noch nachvollziehbaren Abstimmungs- und Konsensverfahren fördern die politische Selbstblockade von Parteien und Regierungsinstitutionen, kosten viel Geld, Zeit und Modernisierungstempo. Dem wiedervereinigten Deutschland ist nach der nächsten Bundestagswahl eine Regierung zu wünschen, die zu einer grundlegenden Neuordnung der Bund-Länderbeziehungen in der Lage ist. Dieses (...) kann nach Lage der Dinge nur eine große Koalition bewerkstelligen. (...) Der endgültige Abschied von Nachkriegszeit und dezentralistischem Besatzerstatut steht noch aus. Die Lehre aus dem unwürdigen Pokerspiel gestern im Bundesrat sollte deshalb von den großen politischen Parteien als unabweisbarer Auftrag verstanden werden: Mehr Zentralismus wagen!"
Die "Mitteldeutsche Zeitung " (Halle) mokiert sich über die Schauspielerei der Politiker:
"Das ist Politik in Pistolero-Manier. Weder Rot-Grün noch die CDU/CSU wollte zum Schluss eine gütliche Einigung über das Zuwanderungsgesetz. Deshalb mussten die Brandenburger Cowboys im Bundesrat aufeinander losgehen wie zwei Revolverhelden im Saloon. Ihre Waffen aber hatten Manfred Stolpe und Jörg Schönbohm nur mit Platzpatronen geladen. Als Regierungschef könnte Stolpe seinen unbotmäßigen CDU-Innenminister jetzt entlassen. Aber der SPD-Mann will weiter regieren, und zwar ohne die PDS. Innenminister Jörg Schönbohm von der CDU könnte nach dem offenen Vertragsbruch durch Stolpe die Koalition aufkündigen. Stattdessen will er in Potsdam 'die Scherben zusammen kehren' und weiter arbeiten. Lauter Knall, viel Pulverdampf, aber ja keine Leichen!"
Quelle: ntv.de