Polnische Mobilmachung Hat Steinbach recht?
10.09.2010, 13:07 Uhr
1. September 1939: Soldaten der deutschen Wehrmacht reißen an der deutsch-polnischen Grenze einen Schlagbaum nieder.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Mit der Aussage, sie könne "es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im März 1939 mobil gemacht hat", sorgte die Vertriebenen-Funktionärin Erika Steinbach im Vorstand der Unionsfraktion für einen Eklat. "Eines ist für mich ganz deutlich: Den Krieg hat Deutschland angefangen", ergänzte Steinbach später. An ihrer Äußerung über die polnische Mobilmachung hielt sie dennoch fest. Sie entspricht auch fast den historischen Tatsachen. Wichtig sei allerdings die Frage nach dem Warum, sagt der Historiker Jochen Böhler.
n-tv.de: Was ist dran an der Aussage von Erika Steinbach, dass Polen schon im März 1939, also ein halbes Jahr vor dem deutschen Überfall, mobil gemacht hat?
Jochen Böhler: Ein solcher Satz geht doch sehr stark an der historischen Wirklichkeit vorbei. Polen war im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs nicht der Aggressor. Wenn man über die Mobilmachung vom März 1939 spricht, die eine Teilmobilmachung war, dann muss man fragen, warum sie passierte.
Warum?
Polen hat am 23. März 1939 in direkter Reaktion auf den deutschen Einmarsch in die sogenannte Rest-Tschechei die Teilmobilmachung erklärt. Die Tschechoslowakei war ja im Rahmen des Münchner Abkommens geteilt worden, das Sudetengebiet war an Deutschland gegangen, nur ein Rest der Tschechoslowakei blieb übrig. Polen hatte davon sogar profitiert; nach dem Münchner Abkommen annektierte Polen das Olsagebiet. Zu diesem Zeitpunkt zählte Polen noch darauf, dass die deutschen Garantien aus dem Münchner Abkommen eingehalten würden. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Rest-Tschechei am 15. März waren diese Garantien obsolet. Polen fühlte sich bedroht und rief deshalb die Teilmobilmachung aus.
Ist es möglich, diesen Schritt als Provokation zu interpretieren?
Eine Teilmobilmachung ist eher ein Versetzen in einen erhöhten Alarmzustand. Ich würde sie auf keinen Fall als Provokation sehen, sondern als verständliche Reaktion Polens auf ein bedrohliches Szenario direkt an seiner Westgrenze.
Wie relevant ist diese Teilmobilmachung überhaupt für die Bewertung des Kriegsbeginns?
Sie spielt eigentlich keine Rolle. Formal ist es richtig, dass Polen mit dieser Teilmobilmachung einen ersten Schritt hin zu einer Bereitschaft zu einer möglichen bewaffneten Auseinandersetzung mit Deutschland gegangen ist. Aber es war kein aggressiver Schritt, der angekündigt hätte, Polen werde demnächst Deutschland angreifen. Es war ganz klar ein rein defensives Manöver. Von deutscher Seite gab es zu diesem Zeitpunkt bereits die Forderung, Danzig mit einer exterritorialen Verbindung ans Reichsgebiet anzuschließen. Nach dem 15. März 1939 musste Polen damit rechnen, dass Deutschland mit Polen genauso verfährt wie es das mit der Tschechoslowakei getan hatte. Insofern war die Reaktion des polnischen Staates durchaus verständlich und ein Signal an die Westmächte, sich stärker zu engagieren, um Polens Bestand zu garantieren.

1. September 1939: 1. September 1939: Hitler verkündet dem Reichstag, dass "zurückgeschossen" werde.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Die Autoren Stefan Scheil und Gerd Schultze-Rhonhof behaupten, die Westmächte hätten Deutschland geradezu in einen Krieg mit Polen gedrängt bzw. Hitler habe den Krieg gegen Polen nicht gewollt. Sind das Außenseiterpositionen?
Ja. An der These, dass Hitler den Krieg mit Polen nicht gewollt hätte, ist nichts dran. Unmittelbar nach der polnischen Mobilmachung hat er vor den deutschen Generälen das Szenario eines Einmarsches in Polen und der Annexion polnischer Gebiete gezeichnet. Er machte dabei auch klar, dass es bei den bisherigen territorialen Forderungen nicht bleiben würde, die man Polen auf dem diplomatischen Parkett präsentiert hatte. Es ist völlig klar, dass Hitler ab Mai 1939 einen Krieg gegen Polen plante. Dass er damals nicht im Sinn hatte, einen ganzen Weltkrieg zu entfachen - schon aus damaliger Sicht war das keine besonders kluge Idee -, darüber herrscht auch Konsens. Aber er hat mit dem Überfall auf Polen einen Weltkrieg provoziert, weil die Westmächte an ihre Garantieversprechungen gebunden waren. Für Deutschland war der Angriff auf Polen keine "Notlösung", sondern ein aggressiver Akt zu Vergrößerung des eigenen Machtbereichs.
Hitler sagte nach dem Angriff auf Polen vor dem Reichstag: "Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen". Wirkt diese Lüge bis heute?
Der Angriff auf Polen wurde durch "inszenierte Grenzzwischenfälle" von der Gestapo vorbereitet, die den Eindruck erwecken sollten, dass polnische Truppen und Partisanen am 31. August die Grenze Richtung Westen überschritten hätten. Auf diese inszenierten Grenzzwischenfälle, die er selbst in den Wochen vorher zusammen mit Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich eingefädelt hatte, bezog sich Hitler in seiner Reichstagsrede. Aber das ist schon in den ersten Tagen des Krieges komplett untergegangen, die Weltöffentlichkeit hat das nicht gekauft. Dass die deutsch-polnische Grenze von Osten nach Westen überschritten wurde, glaubt man höchstens in erzrevisionistischen Kreisen.

Jochen Böhler ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Warschau. Im Fischer-Verlag erschien sein Buch "Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939".
Als der polnische Präsident Komorowski kürzlich seinen Amtskollegen Wulff besuchte, betonten beide, wie gut das deutsch-polnische Verhältnis derzeit sei. Kann jemand wie Steinbach diesem Verhältnis nachhaltig schaden?
Das glaube ich nicht. Die Personalie Steinbach wird in Polen sehr genau beobachtet, und natürlich sorgen solche Äußerungen allgemein für Unverständnis. Aber Frau Steinbach wird in Polen als das gesehen, was sie ist: als eine Person, die nur sich selbst und den Bund der Vertriebenen vertritt. Mittlerweile hat man hier verstanden, dass sie nicht für die deutsche Regierung spricht.
Mit Jochen Böhler sprach Hubertus Volmer
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Quelle: ntv.de