Jean Ziegler über das Massaker des Hungers "Ich schäme mich meiner Ohnmacht"
29.09.2010, 13:14 Uhr
Jean Ziegler: "Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren".
(Foto: REUTERS)
Als im Jahr 2007 die Staatschefs der acht wichtigsten Nationen in Heiligendamm zusammenkamen, trat Jean Ziegler in Rostock vor die Menge - auf dem G8-Alternativgipfel. In dem Massenprotest der G8-Gegner sieht er einen Beleg für eine neue Zivilgesellschaft, die allein die "kannibalische Weltordnung" verändern könne. Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und jetzige Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats spaltet die Geister. Von manchen als Lügner bezeichnet, gilt er anderen als Hoffnungsträger einer besseren Welt. Die Bücher des Schweizer Soziologen, zuletzt "Der Hass auf den Westen", wurden in mehrere Sprachen übersetzt und lösten hitzige Debatten aus.
n-tv.de: In der Abschlusserklärung des UN-Millenniumsgipfels vor einer Woche in New York fehlen konkrete Beschlüsse. Sind Sie enttäuscht?

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon spricht auf dem Millenniumsgipfel in New York zu den Vereinten Nationen.
Jean Ziegler: Ob der Kleinbürger Jean Ziegler enttäuscht ist oder nicht, ist nicht interessant für die Menschen, die sterben. Die Kinder verhungern, Punkt. Die Vereinten Nationen sind am Ende. Sie sind komplett gelähmt, weil die Macht nicht mehr den Staaten gehört. Inzwischen herrschen die Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals über den Planeten. Die nach Weltbankstatistik 500 größten Privatkonzerne haben im letzten Jahr mehr als die Hälfte des weltweiten Bruttosozialprodukts kontrolliert. Sie haben eine Macht wie kein Kaiser und kein Papst sie jemals hatte. Diese multinationalen Konzerne funktionieren nach dem Prinzip der Profitmaximierung. Sie sind nicht an Normen gebunden und fühlen sich nicht verantwortlich, wenn Menschen auf der Welt verhungern. Wir haben also auf der einen Seite eine immer stärkere Monopolisierung der wirtschaftlichen Macht. Und auf der anderen Seite wächst die Pyramide der Märtyrer in den Ländern des Südens.
Was meinen Sie mit der Pyramide der Märtyrer?
Wir sind 6,7 Milliarden Menschen auf der Welt. Eine Milliarde sind permanent unterernährt, jeden Tag sterben 37.000 Menschen an den Folgen des Hungers. Gleichzeitig sagt die Welternährungsorganisation FAO, dass die weltweite Landwirtschaft problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Es gibt zu Beginn dieses Jahrtausends keinen objektiven Mangel mehr. Ein Kind, das jetzt, während wir reden, an Hunger stirbt, wird ermordet. Das ist die kannibalische Weltordnung.

Der Hunger hat viele Gesichter: Unterernährung führt nicht nur zu körperlichen Leiden, sondern kann auch geistige Behinderungen und Traumata hervorrufen.
Wie könnte man diese kannibalische Weltordnung durchbrechen?
Das tägliche Massaker des Hungers hat überall verschiedene Ursachen. Es gibt aber einige Hauptgründe. Einer davon ist die Herstellung von Agrartreibstoff. Die Industriestaaten wollen die fossilen Energien durch erneuerbare Energien ersetzen. Alleine die USA haben dafür im letzten Jahr hunderte Millionen Tonnen Mais und Weizen verbrannt und auch die EU fördert die Herstellung von Agrartreibstoffen. In den Entwicklungsländern wird den Bauern aus diesem Grund das Land geraubt, um dort statt Lebensmitteln Palmöl und Zuckerrohr anzubauen. Die Industriestaaten wollen dadurch das Klima schützen und unabhängiger vom ausländischen Erdöl werden. Das ist zwar verständlich, aber was auch immer die Argumente sein mögen: Nahrungsmittel zu verbrennen, während alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren verhungert, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Was sind weitere Ursachen des Hungers?
Die aufkommende Nahrungsmittelspekulation. Die Hedgefonds haben in der Krise viel Geld auf den Finanzmärkten verloren und sind dann umgezogen auf die Agrarrohstoffmärkte. Dort spekulieren sie legal auf Grundnahrungsmittel. Die Preise für Reis, Mais und Weizen, die zusammen etwa drei Viertel des weltweiten Konsums abdecken, sind explodiert. Im Flassbeck-Report der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung steht, dass mindestens 37 Prozent der Preissteigerung dieser drei Grundnahrungsmittel Spekulationsgewinn ist. Dadurch können sich die mehr als zwei Milliarden Menschen, die man als extrem arm bezeichnet, die Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten. Ein weiterer Aspekt ist das Agrardumping, insbesondere der Europäischen Union. Durch die Subventionen der EU können Sie heute auf jedem afrikanischen Markt deutsches oder französisches Geflügel oder Gemüse kaufen - und zwar für die Hälfte oder ein Drittel des Preises der inländischen Produkte. Deshalb hat der afrikanische Bauer, der sich mit Frau und Kind zehn Stunden am Tag in der brennenden Sonne abrackert, nicht die geringste Chance, auf ein Existenzminimum zu kommen. Und die Hungerflüchtlinge, die aus Afrika nach Europa kommen, werden von der EU mit militärischen Mitteln zurück ins Meer geschickt.
Sie waren in den ärmsten Ländern dieser Welt. Schämen Sie sich manchmal dafür, ein Europäer zu sein?

Jean Ziegler ist emeritierter Professor der Universität Genf. Bis 1999 war er Abgeordneter im Eidgenössischen Parlament, danach arbeitete er für die UN. Er ist Träger verschiedener Ehrendoktorate und internationaler Preise. Seine Bücher ("Wie kommt der Hunger in die Welt", "Das Imperium der Schande", "Der Hass auf den Westen") verkauften sich millionenfach und erregten international Aufmerksamkeit.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Ich schäme mich meiner Ohnmacht. Ich war neun Jahre lang Sonderberichterstatter der UN für das Recht auf Nahrung und jetzt bin ich Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates. Es ist also meine Aufgabe, für das Menschenrecht auf Nahrung zu kämpfen, aber ich bin total ineffizient. Wenn ich nach Guatemala reise, dann komme ich da mit dem UNO-Tross an, mit Sicherheitsleuten, mit weißen Toyotas mit blauer Flagge und so weiter. Und dann glauben die Menschen dort, die halbverhungerten Mayas, dass jetzt endlich einer kommt, der ihnen hilft. Ich weiß aber schon in dem Moment, dass ich scheitern werde, wenn ich vor der UNO die Agrarreform in Guatemala fordere. Und so ist es auch geschehen.
Kann denn der einzelne Bürger etwas gegen den Welthunger unternehmen?
Allen Ursachen, die ich genannt habe, ist eins gemeinsam: Sie sind menschengemacht und können von Menschen wieder rückgängig gemacht werden. Man kann die Spekulationen verbieten, man kann die Exportsubventionen stoppen und man kann mit der Verbrennung von Lebensmitteln aufhören. Die Bundesrepublik ist eine große und vitale Demokratie. Die Bevölkerung kann, wenn sie erwacht, den Landwirtschaftsminister zwingen, das Agrardumping zu stoppen. Und sie kann den Finanzminister zwingen, bei der nächsten Generalversammlung des Internationalen Währungsfonds für die Entschuldung der ärmsten Länder zu stimmen. Und wenn er es nicht tut, kann man ihn abwählen. Das Gesetz gibt uns Waffen in die Hand.
Sie hoffen also auf einen Aufstand der Bevölkerung?
Ich hoffe auf einen demokratischen Aufstand des Gewissens. Es gibt zwei Sorten von Gerechtigkeit: Die tatsächliche Gerechtigkeit und andererseits das Bewusstsein für Gerechtigkeit. Dabei geht es nicht darum, was gerecht ist, sondern was als gerecht oder ungerecht empfunden wird - oder was die Menschen an Gerechtigkeit einfordern. Und da gibt es Fortschritte. Das sieht man sehr gut an Deutschland, wo es übrigens weltweit die meisten Nichtregierungsorganisationen gibt. Während des G8-Gipfels in Heiligendammvor drei Jahren standen auf der anderen Seite des Stacheldrahtes 140.000 Menschen, die protestiert haben. Männer, Frauen, Priester, Atheisten, Kommunisten - alle waren da aufgrund des moralischen Imperativs. Immanuel Kant hat gesagt: Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir. Das ist der Motor einer neuen Bewegung, die gerade entsteht und die bereits politischen Einfluss hat. Nur diese neue Zivilgesellschaft kann die kannibalische Weltordnung brechen.
Glauben Sie, dass es bald zu so einem Aufstand des Gewissens kommen könnte?
Absolut, das kann sehr schnell gehen. Karl Marx hat gesagt: Ein Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören. In Deutschland und Europa wächst das Gras.
Mit Jean Ziegler sprach Leonard Goebel
Quelle: ntv.de