"Die Kernfrage des Jahrhunderts" Können wir ohne Wachstum leben?
16.04.2013, 10:40 Uhr
Ich kaufe, also bin ich.
(Foto: picture alliance / dpa)
Staaten messen sich daran, wie viel sie produzieren und verbrauchen. Der Konsum muss wachsen, und das immer schneller. Kann das ewig so weitergehen? Und wie geht es weiter, wenn Staaten nicht mehr wachsen können? Kleine, aber interessante Antworten auf große Fragen.
Daniela Kolbe ist sichtlich stolz auf den Papierstapel, auf ihrem Tisch. "Ein großes Päckchen" nennt sie die rund 1000 Seiten und lächelt dazu bemüht bescheiden. 28 Monate lang hat die junge SPD-Abgeordnete ein Gremium geführt, das Antworten auf die "Kernfrage des Jahrhunderts" finden sollte, wie ihr Kollege Hermann Ott von den Grünen es ausdrückt. 17 Politiker trafen auf 17 Experten, vor allem Wirtschaftsprofessoren unterschiedlicher Denkrichtungen, aber auch Vertreter von Unternehmen und Arbeitnehmern. Kolbe hielt sie im Zaum und ließ sie gemeinsam das Werk schreiben, das nun als mächtiger Papierklotz vor ihr liegt.
In diesem Papierberg sollen Grundsatzfragen zusammenfinden: Es geht um die soziale Frage als solche, die Folgen von Klimawandel und Ressourcenverbrauch, die Frage, was der Begriff "Wohlstand" eigentlich bedeutet. Eine "Theory of Everything" sei hier gefordert gewesen, sagt der CDU-Abgeordnete Matthias Zimmer, "umfangreiche Antworten auf große Fragen". Kurz gefasst war der Auftrag an die Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität", folgende Frage zu beantworten: Wenn die Art, wie wir jetzt leben, den Planeten zerstört, was müssen wir ändern?
Das Problem: Die Industrieländer verbrauchen so viele Rohstoffe, dass viele davon eines Tages vollständig verbraucht sein werden. Und sie heizen durch ihren CO2-Ausstoß die Atmosphäre so stark auf, dass die Erde sich zu einem wesentlich unwirtlicheren Planeten entwickelt. Überschwemmungen und Missernten sind die Folge, Völkerwanderungen und Kriege um Rohstoffe und Wasser sind abzusehen.
Alternative zum BIP
Als Antwort auf die großen Fragen präsentiert die Kommission nun ein Logo, das eine Werbeagentur erarbeitet hat. Es sieht ein wenig aus wie ein etwas verkrümmtes Herz in Schwarz-Rot-Gold, vielleicht sind es auch zwei Tropfen. Das Herz steht für statistische Daten, die zu zehn Indikatoren zusammengefügt werden, um eine Alternative zum BIP zu schaffen. Denn die Fixierung auf diesen Wert wird für viele der großen Probleme verantwortlich gemacht.
Das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP, gibt an, wie viel die Waren und Dienstleistungen wert sind, die in Deutschland entstehen. Wenn Politiker "mehr Wachstum" fordern, ist damit ein Wachstum des BIP gemeint. Ein höheres BIP bedeutet mehr gebaute Autos, mehr geerntetes Getreide, mehr servierte Kaffees, im besten Fall auch mehr Arbeitsplätze. Wenn das BIP steigt, bedeutet das, dass sich die Menschen mehr Autos, Getreide und Kaffee leisten konnten. Aber geht es der Gesellschaft insgesamt damit besser? Gleichzeitig bedeutet ein steigendes BIP nämlich, dass mehr Stahl verbaut, mehr Boden genutzt und mehr Kaffee um die halbe Welt transportiert wurde - was sich alles negativ auf Umwelt und Gesellschaft auswirken kann.
Mit dem schwarz-rot-goldenen Herz und den zehn dazu gehörenden Indikatoren will die Enquete-Kommission darum in Zukunft eine neue Richtschnur für die Politik anbieten. Es geht etwa darum, wie viele Schulden der Staat hat und wie gleichmäßig die Einkommen verteilt sind. Auch das beschreibt nur den "materiellen Wohlstand", wie es der Abschlussbericht ausdrückt. Daneben gibt es daher die Kategorie "Soziales und Teilhabe" mit den Indikatoren Beschäftigungsquote, Lebenserwartung, Abschlussquoten der weiterführenden Schulen und einem Index, der Freiheit und demokratische Teilhabe messen soll. In der dritten Kategorie "Ökologie" werden Treibhausgase, Stickstoff und Artenvielfalt gemessen. Eine Zahl, die alle diese Informationen in sich vereint, und damit das BIP ersetzen könnte, wird es allerdings nicht geben.
War mehr nicht drin?
Künftig soll die Bundesregierung neben dem Bericht zur wirtschaftlichen Gesamtlage auch die zehn Wohlstandsindikatoren veröffentlichen und zu ihrer Entwicklung Stellung nehmen. Dass damit die "Kernfrage des Jahrhunderts" gelöst wäre, behauptet in der Kommission niemand. Aber der Kurs der Bundesrepublik könnte sich um ein paar Grad verändern, sagt der Grünen-Politiker Ott. Außerdem habe auch der letzte in der Runde zugeben müssen, dass "Wachstum" kein Ziel von Politik sein sollte, sondern lediglich eines von vielen Mitteln, um Wohlstand zu erreichen. Die ehemalige SPD-Bildungsministerin Edelgard Bulmahn verweist auf weitere konkrete Handlungsempfehlungen, etwa zur effizienten Ressourcennutzung in der chemischen Industrie. Außerdem werde die Enquete-Kommission "die gesellschaftliche Diskussion über die Zukunft unserer Welt befördern".
SPD, Grüne und Linkspartei hatten sich mehr erhofft. Sie sprechen von einer "ökologischen Transformation" oder einer "Neujustierung" der Sozialen Marktwirtschaft - Formulierungen, auf die sich Politiker von CDU, CSU und FDP nicht einlassen wollten. Wenn Deutschland zum Vorreiter würde und Wachstum weniger wichtig nehmen würde, könnte es von anderen Staaten überholt werden, warnt der FDP-Abgeordnete Florian Bernschneider: "Wenn die Vorreiterrolle nicht nachgemacht wird, leidet die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands."
Das heißt: Wenn Wirtschaftswachstum keine wichtige Rolle in der Politik mehr spielt, leiden die Chancen für jedes einzelne Unternehmen, sich zu vergrößern. Doch gerade das ist attraktiv für Eigentümer. Wenn es in anderen Ländern mehr Chancen auf Wachstum gibt, finden Investitionen eher dort statt. Ein Dilemma.
Zwar betonen alle Seiten die konstruktive und sachliche Zusammenarbeit zwischen den Lagern, doch die Unterschiede zwischen den Parteien werden davon nicht überdeckt. Im Gegenteil: Wer das Abschlusswerk lese, könne viel über die Unterschiede zwischen den deutschen Parteien lernen, sagte der CSU-Abgeordnete Georg Nüßlein. In Zukunft werden diese Unterschiede jedes Jahr deutlich werden, wenn die Regierung ihren Bericht zu den Wohlstandsindikatoren vorstellt und die Parteien Stellung nehmen. Und dann müssen die Wähler entscheiden, wer die beste Antwort auf die "Kernfrage des Jahrhunderts" hat.
Quelle: ntv.de