Nach dem Massaker in Kairo "Viele Ägypter freuen sich klammheimlich"
15.08.2013, 16:14 Uhr
Die Muslimbrüder lassen sich nicht einschüchtern.
(Foto: AP)
"Was hier in den letzten Monaten stattgefunden hat, ist eine Entmenschlichung des Gegners", sagt der Leiter des Kairoer Regionalbüros der Naumann-Stiftung im Interview mit n-tv.de. Ronald Meinardus beschreibt Ägypten als tief gespaltene Gesellschaft, in der es kein Mitgefühl mit dem politischen Gegner gibt.

Ronald Meinardus (r., hier am Rande des Tahrir-Platzes) ist Leiter des Regionalbüros der FDP-nahen Naumann-Stiftung für die Freiheit in Kairo.
(Foto: privat)
n-tv.de: Wie nennen Sie das, was am Mittwoch in Kairo passiert ist? Niederschlagung einer Protestbewegung, Massaker, Konterrevolution?
Ronald Meinardus: Der "schwarze Mittwoch", wie die Ereignisse in den hiesigen Medien bereits genannt werden, hatte durchaus Züge eines Massakers. Es ist sicherlich der dunkelste Tag in der jüngeren ägyptischen Geschichte. Im Moment ist noch nicht klar, wer den ersten Schuss abgegeben hat. Es gibt Hinweise, dass es die Islamisten gewesen sein könnten. Unzweifelhaft ist, dass Polizei und Militär völlig unverhältnismäßig vorgegangen sind.
Zuletzt teilte das ägyptische Gesundheitsministerium mit, es habe am Mittwoch insgesamt 421 Tote gegeben. Wie verlässlich sind solche Zahlen?
Die sind völlig unverlässlich. Der Pressesprecher der Muslimbrüder, Gehad El-Haddad, hat erklärt, dass es bis zu 4000 Tote gegeben habe, davon 1000 außerhalb Kairos. Wie viele Tote es genau waren, ist für mich aber völlig zweitrangig. Es sind sehr, sehr viele Menschen ums Leben gekommen, darunter viele, die gänzlich unbeteiligt waren.

Es sind zu viele Tote für die Leichenhäuser der Stadt - die Opfer werden in den Moscheen von Kairo aufgebahrt.
(Foto: dpa)
Welche Strategie verfolgt die Armee mit ihrem blutigen Vorgehen? Gibt es überhaupt eine Strategie?
Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass eine Armee eine Strategie verfolgt. In diesem Fall habe ich aber das Gefühl, dass die Armee nicht weiß, was der zweite Schritt sein wird. Es ist ja nicht das erste Mal, dass so etwas passiert - es ist das dritte Mal seit der Machtübernahme des Militärs, dass Dutzende Menschen tot auf der Straße lagen.
Welche Optionen gibt es?
Grob gesehen gibt es zwei Alternativen: Man greift militärisch ein, um das Problem "auszuradieren", um dieses grauenhafte deutsche Wort zu gebrauchen. Oder man benutzt das Militär, um den Gegner einzuschüchtern. Beides ist in der aktuellen Situation jedoch nicht möglich. Es ist einfach nicht möglich, die Gefolgschaft der Muslimbrüder zu liquidieren, zu töten, zu beseitigen. Auch die zweite Variante wird nicht funktionieren. Es gibt eine grauenhafte Bemerkung des Generalsekretärs der Partei der Muslimbrüder, Mohamed El-Beltagy, dessen Tochter am Mittwoch ums Leben gekommen ist. Er sagte in einem Fernsehinterview, er sei nicht traurig, denn seine Tochter sei jetzt eine Märtyrerin.
Für Freitag haben die Muslimbrüder weitere Proteste angekündigt.
Schon am Mittwoch sind die Muslimbrüder nicht einfach nach Hause gegangen, sie zogen marodierend durch die Straßen und haben sich neue Plätze für ihre Camps gesucht. Eines davon ist ganz hier in der Nähe, in Maadi, einem Diplomatenviertel. Als ich gestern Abend das Fenster aufgemacht habe, habe ich nicht nur die Gesänge und Protestrufe gehört, sondern auch das Schießen.
Wie wird das Militär auf weitere Proteste reagieren?
Es gibt viele mögliche Szenarien. Das dicke Ende haben wir noch nicht gesehen. In den nächsten Tagen wird sich entscheiden, ob die aktuelle Übergangsregierung zu einer knallharten Militärdiktatur wird.
Entwickeln die Gegner der Muslimbrüder jetzt eine kritischere Haltung zur Armee?
Im Moment steht das Land unter Schock. Aber das Militär kann sich noch immer auf eine Bewegung stützen, die vor wenigen Wochen noch mehrere Millionenen Menschen mobilisiert hat. Es gibt sehr viele Ägypter, die für Armeekommandeur General Abdel Fattah al-Sisi sind. Viele Ägypter empfinden klammheimlich eine fast schon perverse Freude daran, dass es den Muslimbrüdern jetzt an den Kragen geht.
Das klingt nicht so, als gäbe es die Möglichkeit einer politischen Lösung.
Alle Ägypter sagen, wir lieben unser Land, aber jeder liebt sein Ägypten und nicht das Ägypten für alle. Der Muslimbruder liebt das islamistische Ägypten, der Liberale liebt das säkulare Ägypten. Es gibt keine Wahrnehmung eines einheitlichen ägyptischen Staates. Die Gräben zwischen den Islamisten und den Nicht-Islamisten sind sehr tief.

Der abgesetzte Präsident Mursi befindet sich in Untersuchungshaft, seine Anhänger protestieren weiter.
(Foto: AP)
Der türkische Präsident Abdullah Gül hat die Situation in Ägypten mit der in Syrien zu Beginn des Bürgerkriegs verglichen. Wie groß ist das Risiko, dass Ägypten ein syrisches Schicksal erleidet?
Wenn Sie mich das vor zwei Jahren gefragt hätten, hätte ich gesagt, das ist eine absurde Vorstellung. Ägypten hat eine ganz andere Geschichte, Ägypten weist vor allem auch nicht die konfessionelle Vielfalt auf wie Syrien, die ein wesentlicher Grund für den Konflikt dort ist. Aber auch hier gibt es natürlich Differenzen. Am Mittwoch gab es pogromartige Attacken gegen koptische Kirchen.
Kann man schon einschätzen, wie sich die Situation der Christen in Ägypten entwickeln wird?
Früher haben sich die ägyptischen Christen aus der Politik herausgehalten. Das hat sich geändert. Gerade jüngere Kopten haben eine wichtige Rolle gespielt in der Revolution vom Januar 2011. Der neue koptische Papst Tawadros II. hat sich vor einigen Wochen klar auf die Seite der Übergangsregierung und gegen die Muslimbrüder gestellt. Das rechnen ihm die Muslimbrüder nun vor.
Bei wem sehen Sie die größte Schuld an der aktuellen Situation?
Ich glaube, man tut sich keinen Gefallen, wenn man da eine Seite hervorhebt. Es gibt hier große Defizite, die eine demokratische Transformation erschweren. Ein Defizit ist, dass es keine Strukturen gibt, die Konflikte auffangen. Es gibt hier keine Parteien, die diesen Namen verdienen, es gibt keine kritische Berichterstattung, die für aufgeklärte Bürger sorgt, es gibt keine Justiz, die von allen Seiten als unabhängig akzeptiert wird. Es gibt auch keinen Respekt vor der Würde des Einzelnen. Was hier in den letzten Monaten stattgefunden hat, ist eine Entmenschlichung des Gegners. Beide Konfliktparteien stellen die Gegenseite auf ihren Plakaten als Hunde, Schlangen oder andere Tierarten dar. Die Gewalt wird so gewissermaßen psychologisch vorbereitet, das Leid der anderen Seite wird so erträglich.
Sie klingen sehr pessimistisch.
Als Liberaler bin ich immer optimistisch. Aber ich habe in den letzten Tagen viel von meinem Optimismus verloren, weil ich gesehen habe, wie die Menschen aufeinander losgehen, und wie viele Menschen, die sich als Liberale bezeichnen, Dinge gutheißen, die ich absolut inakzeptabel finde.
Mit Ronald Meinardus sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de