"Aus dem Ruder gelaufen" Viele verwahrloste Kinder
18.10.2006, 15:29 UhrIn Deutschland sind rund 80.000 Kinder im Alter bis zu zehn Jahren von Verwahrlosung und extremer Vernachlässigung durch ihre Eltern bedroht. Diese Zahl nennt der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann in der "Zeit". "Etwa ein Prozent der Eltern sind sozial völlig aus dem Ruder gelaufen, alkoholkrank, drogenabhängig, psychisch schwerst defizitär - das sind die, über deren Kindern täglich eine Katastrophe hängt", sagte Hurrelmann.
Der Wissenschaftler forderte in dem Interview ein beherzteres Eingreifen des Staates in Problemfamilien: "Wenn der Staat seine Fürsorgepflicht wahrnehmen will, muss er direkt in private Lebensverhältnisse eingreifen." Gegenüber überforderten Eltern sollten staatliche Stellen mit sanftem Zwang Hilfe anbieten: "Mit Freiwilligkeit kommen Sie bei den Eltern, über die wir hier die ganze Zeit reden, nicht weit." Auch am Geldbeutel sollten es nach seiner Ansicht Eltern spüren, wenn sie sich nicht genug um den Nachwuchs kümmern: "Ich plädiere außerdem dafür, die Zahlung des Kindergeldes vom Besuch ärztlicher Vorsorgeuntersuchungen abhängig zu machen."
"Die Nachbarn sind aufmerksamer geworden"
In Berlin werden immer mehr misshandelte und vernachlässigte Kinder durch Hinweise von aufmerksamen Nachbarn entdeckt. "Es sind nicht mehr Fälle geworden, sondern wir hellen das Dunkelfeld auf. Die Nachbarn sind aufmerksamer geworden", sagte Michael Havemann, Dezernatsleiter im Landeskriminalamt, der Deutschen Presse-Agentur.
Im Gegensatz zu sexuellem Missbrauch, der in allen sozialen Verhältnissen vorkomme, seien Vernachlässigungen gerade in "Familien der unteren Schicht" verbreitet. "Das erleben wir eher nicht in Arztfamilien", sagte Havemann. Oftmals spiele Alkohol eine Rolle. Trägheit und Faulheit seien ebenfalls im Spiel. Erst wachse der Wäscheberg, dann verdrecke die Wohnung immer mehr.
In Leipzig hat sich ein so genannter Elternbrief bewährt. Damit werde ein erster Kontakt zu den Eltern eines jeden Neugeborenen geschaffen, sagte der Geschäftsführer des Kinderschutzbundes Sachsen, Heinz Zschache am Mittwoch. "Mit dem Informationspaket erhalten sie Adressen von Kinderärzten, aber auch Anlaufstellen in Krisensituationen", erklärte er.
"Nicht jeder Fall von Kindesvernachlässigung ist zu verhindern", räumte Zschache ein. Die Zunahme derartiger Vorkommnisse aber müsse bedenklich stimmen, an dieser Stelle sei die ganze Gesellschaft gefragt. "Sonst haben wir in nächster Zeit vielleicht jede Woche ein totes Kind."
Zwei Besuche pro Woche
Nach dem tragischen Tod des kleinen Kevin in Bremen sollen Problemfamilien in der Hansestadt künftig zwei Mal in der Woche von Sozialarbeitern besucht werden. "Das möchte ich zum Standard machen", sagte Bremens Regierungschef Jens Böhrnsen (SPD) in der ARD. "Wir müssen erst die Kinder und dann die Akten anschauen." Diese Lehre sei aus dem Tod Kevins zu ziehen, der am 10. Oktober tot im Kühlschrank seines drogenabhängigen Vaters gefunden wurde.
Unterdessen muss sich im niedersächsischen Hildesheim ein 31 Jahre alter Mann wegen schwerer Misshandlung seines drei Wochen alten Sohns vor Gericht verantworten. Der Mann sei zur Tatzeit betrunken gewesen, erklärte am Mittwoch ein Sachverständiger in dem Prozess um versuchten Mord. Der Vater hatte vor Gericht gestanden, den Säugling geschüttelt und geschlagen zu haben, weil er sich über das Schreien geärgert hatte und die Mutter auf eine Party gegangen war. Das Baby erlitt lebensgefährliche Kopfverletzungen.
Quelle: ntv.de