Deutschland und der 7. Oktober Warum ich an der Seite Israels stehe, gerade jetzt
06.10.2024, 10:23 Uhr Artikel anhören
Soldatinnen trauern auf dem Gelände des Nova Music Festivals, wo Hamas-Kämpfer und andere Männer aus dem Gazastreifen am 7. Oktober mehr als 360 Menschen ermordeten und Dutzende weitere entführten.
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Der 7. Oktober steht für den größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust. Der seither tobende Krieg in Nahost polarisiert. Die Netanjahu-Regierung verprellt Israels Freunde. Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, erklärt, warum er dennoch unbedingt solidarisch bleibt mit Israel.
In der hitzigen Debatte über Krieg und Frieden im Nahen Osten erfordert es derzeit eine gehörige Portion Mut und innere Überzeugung, sich an die Seite Israels zu stellen. Durch die israelische Bodenoffensive gegen die Infrastruktur der terroristischen Hisbollah im Libanon ist der Rechtfertigungsdruck nicht kleiner geworden. Freunden Israels wie mir wird eine falsch verstandene Solidarität mit der umstrittenen Netanjahu-Regierung unterstellt. Ich erlebe eine Art Bekenntniszwang, den ich sonst bei keinem anderen Land kenne. Als Freund Israels soll man immer erst mal mantraartig erklären, in welchen Punkten man der israelischen Regierung nicht folgt. Auch in etablierten Kreisen steht das Bekenntnis zur Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson, das aus der deutschen Verantwortung für die Verbrechen des Holocausts folgt, inzwischen nur noch an zweiter Stelle. Aus dem klaren "Ja" zur Sicherheit des jüdischen Staates ist bei vielen ein verdruckstes "Ja, aber" geworden, bei dem das "Aber" mehr und mehr Raum einnimmt. Es verfestigt sich zunehmend eine Äquidistanz in diesem Krieg, die mich fassungslos macht.

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Michael Roth war seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages und in der vergangenen Legislaturperiode Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Der Sozialdemokrat vertrat im Bundestag den nordhessischen Wahlkreis Hersfeld-Rotenburg Werra-Meißner-Kreis. Bis 2021 war Roth acht Jahre lang Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 gehörte Roth innerhalb der SPD zu den exponiertesten Befürwortern einer militärischen Unterstützung der Ukraine - und stieß dabei teils auf scharfen Widerspruch. Zur vergangenen Bundestagswahl trat Roth nicht mehr an. Am 18. September erscheint sein Buch "Zonen der Angst. Über Leben und Leidenschaft in der Politik".
Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich bin kein wandelnder Vermittlungsausschuss. Ich bin parteiisch in diesem Konflikt. Ich stehe an der Seite Israels. Nicht, weil ich auf einem Auge blind wäre für das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Nicht, weil ich mich mit einer israelischen Regierung gemein machen würde, die in Teilen rechtsextrem und ultranationalistisch ist und einen klaren Plan für den Frieden vermissen lässt. Nicht, weil ich eine Zweistaatenlösung ablehnen würde, die Israelis und Palästinensern endlich ein friedliches Nebeneinander in Sicherheit und Würde ermöglicht. Nein, ich vertrete diese Haltung auch öffentlich so vehement, weil es in der deutschen Debatte derzeit an wahrnehmbaren pro-israelischen Stimmen fehlt. Und diese Leerstelle versuche ich gemeinsam mit anderen zu füllen - in Talkshows, in den sozialen Medien und bei öffentlichen Diskussionsveranstaltungen.
Deutschland ist mir fremd geworden
Dass einige meine Haltung als unkritisch empfinden, ist mir bewusst. Aber in den vergangenen Monaten hatte ich mitnichten den Eindruck, dass es im Rest Deutschlands eine unkritische Debatte über das militärische Vorgehen Israels gegen die Terrororganisation Hamas gibt. Im Gegenteil: Ich nehme die Debatte inzwischen als ziemlich einseitig wahr, da kaum noch über die eigentliche Ursache dieses Krieges geredet wird: Das Massaker vom 7. Oktober 2023 mit mehr als 1.200 Toten, das in Israel tiefe Wunden geschlagen und zu einer großen Traumatisierung geführt hat. Der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust.
Eine wachsende Zahl von Deutschen sieht inzwischen keinen unmittelbaren Zusammenhang mehr zwischen dem Hamas-Terror und dem Krieg, der seit einem Jahr in Gaza tobt. Während die Kämpfe noch laufen, hat Israel den Krieg der Bilder, den Krieg um die öffentliche Meinung längst verloren. Kaum noch jemand spricht vom Schicksal der rund Hundert israelischen Geiseln, die immer noch in der Gewalt der Hamas sind. Auf der anderen Seite gibt es in weiten Teilen der Gesellschaft einen völlig losgelösten Blick auf das Leid der Palästinenserinnen und Palästinenser, die per se und ausschließlich Opfer sind. Es hat mich erschüttert, dass sich Menschen, die ich bislang schätzte, mit dem Terror solidarisiert und ihn als legitimes Streben nach palästinensischer Selbstbestimmung umgedeutet haben.
Der 7. Oktober hat auch meinen Blick auf mein Land verändert. Ich habe den grassierenden Antisemitismus unterschätzt. Um den Antisemitismus alter und neuer Nazis wusste ich, auch um den Hass auf Israel unter Muslimen. Aber dass in meinem eigenen linken Milieu die Gründung des Staates Israel als Antwort auf den von Deutschen begangenen Holocaust ausgeblendet wird, Israel als kolonialistischer Apartheidstaat verunglimpft und Jüdinnen und Juden an deutschen Universitäten und Schulen, auf deutschen Straßen und Plätzen bedroht und angegriffen werden, schockiert mich zutiefst. Ich dachte, wir hätten mehr aus unserer Geschichte gelernt. Ich habe mich geirrt. Deutschland ist mir fremd geworden.
Am Anfang steht der Hamas-Überfall
Was ich in Deutschland vermisse, ist Empathie für die Bürgerinnen und Bürger eines Landes, das von Feinden umzingelt ist, die es von der Landkarte auslöschen möchten. Viele können oder wollen nicht verstehen, was es bedeutet, Israeli und Jude zu sein. Fast jeden Tag wird Israel aus seiner Nachbarschaft attackiert - von der Hamas aus dem Gazastreifen, von der Hisbollah aus dem Libanon, von den Huthis aus dem Jemen, von proiranischen Milizen in Syrien und dem Irak und im April 2024 auch erstmals direkt aus dem Iran. Allein die hochwirksame israelische Luftabwehr hat Tausende weitere zivile Opfer verhindert.
Zudem gibt es in Israel seit dem 7. Oktober 2023 über 100.000 Binnenvertriebene, die aus Angst vor dem Terror nicht in ihr Zuhause zurückkehren können. Kein Staat kann auf Dauer akzeptieren, dass ein Teil seines Territoriums unbewohnbar ist, weil es Tag für Tag von einer Terrororganisation angegriffen wird. Für Israels Sicherheit ist die Hisbollah mit einem Waffenarsenal von rund 150.000 Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern eine noch viel größere Bedrohung, als es die Hamas jemals war. Gegen diesen Terror muss sich Israel zur Wehr setzen können, um die Sicherheit aller Israelis wiederherzustellen. Das schließt auch eine begrenzte Bodenoffensive in der israelisch-libanesischen Grenzregion ein, um dort die militärische Infrastruktur der Terrororganisation zu zerstören.
Doch nicht nur in Deutschland gibt es ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Israel. Es wird kaum noch unterschieden zwischen einer brutalen Terrororganisation und einem liberalen Rechtsstaat. Zu viele ignorieren die Tatsache, dass Israel die einzige Demokratie im Nahen Osten ist - mit einer unabhängigen Justiz, einer parlamentarischen Opposition, freien Medien und einer lebendigen kritischen Zivilgesellschaft. Sexuelle Minderheiten können ohne Angst verschieden sein. All das sucht man im Gazastreifen vergebens. Das bedeutet nicht, dass eine israelische Regierung per se frei von Fehlern ist. Aber sie kann für Fehler, Versäumnisse und mögliche (Kriegs-)Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden - von nationalen und internationalen Gerichten, aber auch von den Wählerinnen und Wählern. Keine israelische Regierung darf sich einfach so über Gesetze und das Völkerrecht erheben - auch nicht in diesem Krieg.
Netanjahu wird gehen, Israel bleibt
In Israel wird viel gestritten über den richtigen Weg zu dauerhafter Sicherheit und Frieden. Nirgendwo ist die Kritik an Netanjahus Politik größer als in Israel selbst. Seit Monaten gehen Hunderttausende gegen ihre Regierung auf die Straße und drängen auf ein Abkommen mit Hamas über eine Waffenruhe und die Freilassung der verbliebenen israelischen Geiseln. Netanjahu hat bislang keines seiner Kriegsziele erreicht: Weder sind alle Geiseln befreit, noch ist die Terrorinfrastruktur der Hamas zerstört. Stattdessen treibt seine Politik die Spaltung der israelischen Gesellschaft weiter voran und das Land in die internationale Isolation.
Selbst die engsten Verbündeten gehen inzwischen offen auf Distanz zu Netanjahu. Die Spaltung der israelischen Gesellschaft und die wachsende internationale Isolation bedrohen die Sicherheit Israels genauso wie die äußeren Feinde in der Nachbarschaft - auch vor dieser Bedrohung muss eine Regierung ihr Land schützen. Aber Netanjahus Politik macht es den Feinden und Kritikern Israels allzu oft sehr leicht - und Freunden Israels wie mir immer schwerer, standhaft an der Seite des Landes zu stehen.
Meine Kritik an Netanjahus Politik ändert jedoch nichts an meiner Haltung. Regierungen kommen und gehen, aber meine Verbundenheit mit diesem faszinierenden Land und seinen Menschen bleibt. Ich stehe nicht für ein "Ja, aber", sondern für ein "Ja, weil". Ich bin solidarisch mit Israel, weil wir Deutschen nach dem Horror des Holocausts eine historische Verantwortung für die Sicherheit Israels haben. Weil ich mich gerade als Linker verpflichtet fühle, meine Stimme gegen den grassierenden Antisemitismus und Israelhass zu erheben. Weil die Existenz Israels der größte Sicherheitsgarant für jüdisches Leben weltweit ist. Weil Israel der einzige demokratische Rechtsstaat im Nahen Osten ist, in dem Menschen unabhängig von ihrer Religion, Ethnie und sexuellen Identität in Freiheit leben können.
Quelle: ntv.de