Dossier

"Judas-Evangelium" Verrat als Wille Gottes

Judas soll kein Verräter von Jesus Christus, sondern eigentlich sein treuester Jünger gewesen sein. Dies ist die für Laien verblüffende Kernaussage des gnostischen "Judas-Evangeliums", das am Donnerstag in Washington erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Es handelt sich um ein Manuskript aus dem 3./4. Jahrhundert nach Christus, das restauriert und aus dem Koptischen übersetzt wurde, teilten Bibelwissenschaftler und das Magazin "National Geographic" als Sponsor mit.

Die Bedeutung des Dokuments ist strittig. "National Geographic" meint, das "Judas-Evangelim" sei nach Einschätzung von Experten für das frühe Christentum die aufregendste Entdeckung seit Jahrzehnten.

Verrat als Wille Gottes

Dem Manuskript zufolge bat Jesus seinen Jünger Judas, ihn an die Römer auszuliefern, um den Willen Gottes zu erfüllen. Durch diesen Auftrag erscheine der größte Schurke der Bibel in völlig neuem Licht. Der Kodex - ein gebundener auf koptisch verfasster antiker Text - wurde den Angaben zufolge in den 1970er Jahren in Ägypten entdeckt und gelangte über Umwege an die Schweizer Maecenas-Stiftung. Die National Geographic Society unterstützte in den vergangenen fünf Jahren die Restaurierung und Übersetzung des Dokuments aus dem Koptischen. Alle wissenschaftlichen Tests hätten bisher die Echtheit des Manuskripts bestätigt, das zwischen 220 und 340 n. Chr. entstanden sei, hieß es.

Den Texten des Neuen Testaments zufolge starb Jesus am Kreuz, nachdem der Apostel Judas ihn im Garten Gethsemane für 30 Silberlinge an die römische Besatzungsmacht verraten hatte. Im "Judas-Evangelium" wird der Verrat zur Ruhmestat: Judas ist der Einzige, der die Botschaft Jesu versteht. Er wird von Jesus in alle Geheimnisse eingeweiht und von ihm beauftragt, seinem Meister einen letzten Dienst zu erweisen. Die mit der Übersetzung beauftragten Wissenschaftler interpretieren diese Aussage so, dass Judas Jesus zwar den Tod brachte, ihm damit aber einen letzten Gefallen erwies.

Nach Meinung des Augsburger Religionswissenschaftlers Gregor Wurst, der maßgeblich an der Restaurierung und Übersetzung des Manuskripts beteiligt war, wollte der Verfasser des "Judas-Evangeliums" vor allen Dingen provozieren: "Er suchte die Herausforderung mit anderen in der Diskussion um die, richtige Jesus-Überlieferung", schreibt Wurst im "National Geographic".

"Judas-Evangelium" ist Zeugnis der Gnosis

Dagegen hält der renommierte Bibelwissenschaftler Prof. Thomas Söding das "Judas-Evangelium" religionsgeschichtlich für interessant, aber nicht sensationell. "Der Text vermittelt uns keine neuen historischen Einsichten über den Apostel Judas oder den Kreuzestod Jesu", sagte der in Wuppertal lehrende Professor für Biblische Theologie, der auch Mitglied der Päpstlichen Bibelkommission ist. Der Text zeige "eine Facette der Frömmigkeit im 3./4. Jahrhundert innerhalb der religiösen Bewegung der Gnosis".

Der Schwachpunkt sei die Fundgeschichte, meinte Söding. Es sei nicht klar, woher das Dokument eigentlich ursprünglich stamme. Sollten die naturwissenschaftlichen Analysen stimmen und das Dokument tatsächlich im 3./4 Jahrhundert entstanden sein, wäre es nahe liegend, dass es sich um eine koptische Übersetzung des ursprünglich vermutlich in Griechisch verfassten "Judas-Evangeliums" handle. Über dieses habe bereits der Lyoner Bischof Irenäus um 180. n.Chr. berichtet. "Das Besondere wäre aber, dass jetzt der Text erstmals vorläge."

"Kontroverse aus dem 3. Jahrhundert"

Söding erläuterte die religionsgeschichtliche Bedeutung des Textes: Die vier Evangelien im Neuen Testaments seien mehr als zwei Jahrhunderte früher entstanden und erzählen vom Leben, Wirken und Sterben Jesu. Nach christlichem Verständnis war Jesus "wahrer Mensch und wahrer Gott" zugleich. Die Gnostiker, eine religiöse Strömung, hätten diese Vorstellung nicht akzeptieren können. Für sie sei Jesus auch auf Erden Gott gewesen, nur in eine menschliche Hülle gekleidet. Die Gnostiker sprachen daher von einer Schein-Kreuzigung Jesu, bei der der göttliche Jesus sich seiner menschlichen Hülle entledigt habe. "Es geht also um das damalige kontrovers diskutierte Jesus-Bild", sagte Söding.

"Gnostische Sichtweise nicht neu, aber zugespitzt"

In dem "Judas-Evangelium" werde daher der biblisch überlieferte Verrat des Judas, Jesus für 30 Silberlinge an die römischen Soldaten auszuliefern, positiv umgedeutet. Jesus habe Judas in seine göttliche Mission eingeweiht und dieser ihm mit dem Verrat einen letzten Gefallen getan. "Diese gnostische Sichtweise ist nicht neu, sie ist aber bislang nirgends so zugespitzt gefunden worden wie in dem 'Judas-Evangelium'", sagte Söding. Er betonte, dass das Dokument keine Worte Jesu enthalte, die als authentisch betrachtet werden könnten.

Quelle: ntv.de

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