"Immer diese Wehleidigkeit!" Die Stimme des ESC redet Tacheles
13.05.2017, 16:47 Uhr
"Mister Grand Prix" - auf seiner Ebene zumindest: Peter Urban.
(Foto: picture alliance / Andreas Arnol)
Seit 20 Jahren ist Peter Urban "die" Stimme des ESC. Im Interview mit n-tv.de blickt der Kommentator zurück auf vergangene Highlights und nach vorn auf das Finale in Kiew. Und er schreibt nicht zuletzt Deutschland etwas ins Stammbuch.
n-tv.de: Sie feiern in diesem Jahr Ihr 20-jähriges Jubiläum als Kommentator beim ESC. Gefühlt hätte ich sogar gedacht, Sie wären schon länger dabei …
Peter Urban: Oh, wirklich?
Geht Ihnen das auch so?
Nein, eigentlich nicht. 20 Jahre sind schon eine lange Zeit. Es hat sich aber beim ESC auch sehr viel verändert. Ich glaube, in den 90er-Jahren wäre ich gar nicht so gerne Kommentator gewesen. Damals war der ESC ja doch noch ziemlich antiquiert und eine seltsame Veranstaltung. Dann wurde er wirklich modernisiert. Er wurde wesentlich flotter und, wie ich finde, auch angenehmer.

Der Sieg von Katrina & The Waves 1997 in Dublin - in mehrfacher Hinsicht ein ESC-Wendepunkt.
(Foto: picture-alliance / dpa)
War er das schon, als Sie 1997 in Dublin übernommen haben?
Da war er noch so ähnlich wie in der Zeit davor. Aber dann gewann mit Katrina & The Waves eine Rockband. Im Jahr darauf in Birmingham vollzog sich mit Guildo Horn schon der Wandel mit einem gänzlich anders gelagerten deutschen Beitrag. Und die Aufmerksamkeit wuchs und wuchs und wuchs. Dann gab es immer mal Wellen: Mal war der deutsche Beitrag interessant und vielleicht auch erfolgreich - und mal nicht. Aber es war immer spannend und macht mir bis heute viel Freude.
Ralph Siegel bezeichnet sich auch gern mal als "Mister Grand Prix". Eigentlich könnten Sie ihm den Titel inzwischen streitig machen …
Ach, nein. Das sind ja unterschiedliche Ebenen. Er hat 25 Lieder komponiert, mitproduziert und dafür gesorgt, dass die Künstler mit ihnen auf der Bühne stehen. Ich dagegen betrachte die Ereignisse nur und kommentiere sie. Ich will ihm da absolut nichts streitig machen.
Viele Deutsche können sich den ESC ohne Ihre Kommentare nur noch schwer vorstellen. Ist für Sie wiederum ein Leben ohne den ESC denkbar?
Aber natürlich! Ich habe ja ansonsten das ganze Jahr ein Leben ohne den ESC. Ich bin keiner, der wie ein Fan das ganze Jahr danach guckt, was die aktuellen oder früheren ESC-Künstler so treiben. Das machen ja die richtigen Fans. Es ist ein Wahnsinn, wie engagiert und leidenschaftlich sie sind. So bin ich nun nicht ...
Sondern?
Ich beschäftige mich ein paar Wochen vorher damit, indem ich mir die Songs anhöre. Aber die Hauptarbeit passiert in den acht bis zehn Tagen, die man hier vor Ort ist. Da holt man sich die letzten Informationen, schaut sich die Proben an und überlegt, was man sagt. Den Rest des Jahres mache ich aber etwas ganz anderes. Ich bin ja eigentlich schon im Ruhestand, mache aber weiter meine Radiosendungen - mit ganz anderer Musik. Außerdem bin ich Familienvater mit zwei Kindern, 18 und 13. Da hat man genug am Hut. (lacht)
Wenn Sie auf die 20 Jahre zurückblicken - was sind dann Ihre ESC-Highlights?
Oh, da gibt es mehrere. Ich habe vorhin schon den Auftritt von Guildo Horn 1998 in Birmingham erwähnt. Die beiden Song Contests 2000 und im vergangenen Jahr in Stockholm waren auch schön, weil es eine sehr spannende Stadt ist, die mit dem "Globen" eine tolle Halle hat. Sehr interessant war auch der ESC in Jerusalem, weil es dort eben einfach so anders als in irgendeiner europäischen Stadt war. Und natürlich muss ich Lenas Sieg 2010 in Oslo erwähnen. Auch wenn man irgendwie mit ihm rechnen konnte, kam er dann doch überraschend. Das zu begleiten, war definitiv ein Highlight.
Wenngleich die musikalische Qualität beim ESC zugenommen haben mag, gibt es zugleich aber auch eine Entwicklung hin zu einem gewissen Einheitspop. Landestypische Klänge hört man immer seltener. Ist das gut oder schlecht?
Das finde ich nun wiederum nicht so gut. Es ist schade, dass sich viele einfach Songs von schwedischen Komponisten holen und das ziemlich gleichartig produzieren. Aber man muss sich etwa in diesem Jahr mal die Erfolgsquote anschauen: Diverse dieser durchschnittlichen Mainstream-Songs sind im Semifinale ausgeschieden. Im Finale gibt es dagegen eine relativ große Vielfalt verschiedener Stile - eine größere Vielfalt als in den vergangenen Jahren.
Welche Beiträge würden Sie da hervorheben?
Da gibt es etwa den ungarischen Song, eine Mischung aus Gypsy-Folk und Rap. Dann gibt es den portugiesischen Song, der komplett anders ist als alles andere im Finale. Es gibt lustige Nummern wie den Jodel-Song aus Rumänien. Aus Kroatien kommt der klassische Typ. Oder nehmen Sie diese drei toll singenden holländischen Mädchen. Nicht zu vergessen: der spannende Italiener mit seinem intelligenten Italo-Pop-Song. Ich bin froh, dass es sich so entwickelt hat.
Nun spielt ja, ob man das gern zugibt oder nicht, auch Politik beim ESC immer eine Rolle. In diesem Jahr wurde in dieser Hinsicht mit dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine vielleicht sogar ein neuer Höhepunkt erreicht. Wie sollte man Ihrer Ansicht nach damit umgehen?
Ich hoffe einfach, dass so etwas nie mehr vorkommt. Das ist schon sehr unerfreulich und hätte vermieden werden müssen - mit ein bisschen mehr Diplomatie, aber auch mit weniger Provokation von Seiten Russlands. Die Russen haben ihre Sängerin doch ganz bewusst nominiert, weil sie wussten, dass sie auf der Krim aufgetreten war und keine Einreiseerlaubnis in die Ukraine erhalten würde. Das war kalkuliert - und die Ukraine ist darauf reingefallen.
Eigentlich steht der ESC für etwas anderes …
Ja, er steht für das genaue Gegenteil: Zusammenhalt, Zusammenarbeit, Toleranz, gemeinschaftliches Füreinander - und für Spaß und Freude an Musik und diesem Event. Eigentlich ist dieser tolle Event ein Vorbild für Europa und die europäische Einigung. Der ESC ist dann in einem guten Sinne politisch, wenn er gesellschaftlich etwas verändert.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel hat der Sieg von Conchita Wurst in Kopenhagen für die Akzeptanz von anderen Lebensentwürfen in ganz Europa unglaublich viel bedeutet. Conchita hat ja auch aus Südosteuropa, traditionell orthodoxen Ländern und nicht zuletzt Russland ganz viele Punkte bekommen. Oder nehmen wir den Roma-Künstler, der in diesem Jahr für Ungarn antritt. In dem Land werden gerade die Roma nicht besonders gut behandelt. Vielleicht ist seine Teilnahme nur ein Feigenblatt für Ungarns Regierung. Aber vielleicht setzt sie auch ein positives politisches Signal.
Nun werden hinter den Abstimmungen beim ESC ja auch häufig politische Beweggründe vermutet. Zu Recht?
Nein, das ist doch kompletter Unsinn. Natürlich gibt es zum Beispiel einzelne skandinavische Länder wie Norwegen, Schweden und Finnland, die sich gerne gegenseitig mit hohen Punktzahlen bedenken. Aber wenn einer von ihnen mit einem schlechten Song antritt, bekommt er auch keine Punkte. Früher waren es die Balkan-Staaten, die sich gegenseitig die Punkte gaben. Das wiederum wurde durch die Halbfinals zumindest teilweise ausgeschlossen. Ein anderes Beispiel waren die früheren Sowjetländer, die für Russland stimmten, weil in Ländern wie Armenien oder Georgien eben viele Russen leben. Nun ist Russland in diesem Jahr nicht dabei …
Das klingt dann aber doch nach politisch motivierten Stimmabgaben …
Nein, denn es sind nicht die Länder, die sich gegenseitig bevorzugen. Es sind die Menschen aus den Ländern, die in einem anderen Land leben oder arbeiten und von dort ihrer Heimat viele Punkte geben. Das passiert auch in Deutschland, Holland oder der Schweiz und wird es immer geben. Portugal zum Beispiel bekommt aus der Schweiz viele Punkte, weil in der Schweiz sehr viele Portugiesen arbeiten. Aus Deutschland dagegen gab es früher immer viele Punkte für die Türkei, die ja leider seit fünf Jahren nicht mehr beim ESC dabei ist.
Ein schlechtes Abschneiden Deutschlands lässt sich also Ihrer Ansicht nach auch nicht politisch erklären …
Ach, immer diese Wehleidigkeit! Ich glaube, das Wichtige ist einfach nur, gute Songs und gute Künstler zu finden. Zum Beispiel ein Land wie Irland, das früher so oft gewonnen hat, kämpft seit Jahren um ein Comeback, aber ohne Erfolg.
Wie sehen Sie dann Deutschlands Chancen mit Levina in diesem Jahr?
Eigentlich gut. Sie ist eine tolle Sängerin. Und sie hat hier einen hervorragenden Auftritt hingelegt, nicht nur auf, sondern auch neben der Bühne. Ob sich das dann in Punkten auszahlt, weiß ich nicht. Aber sie macht einen positiven und strahlenden Eindruck auf der Bühne. Ich wünsche ihr wirklich, dass sie in der ersten Hälfte landet.
Wer ist Ihr Favorit für den Sieg?
Vom Kopf her denke ich, dass vielleicht tatsächlich Italien gewinnt. Aber vom Herzen wünsche ich mir wohl doch eher Portugal.
Mit Peter Urban sprach Volker Probst
Quelle: ntv.de