Zwischen Nazis und Sowjets "Als die Tauben verschwanden"
12.10.2014, 09:24 UhrRoland kämpft während des Zweiten Weltkrieges für die Freiheit Estlands, sein Cousin Edgar giert nach Macht und dessen Frau verliebt sich in einen SS-Mann. Nach dem Krieg werden die Karten neu gemischt - und ein perfider Plan nimmt Gestalt an.
Wenn einer ein Opportunist ist, dann ist es Edgar. Gewissenlos, verlogen und feige greift er nach der Macht - egal, zu welchem Preis. Als Estland während des Zweiten Weltkrieges von den Nazis besetzt wird, wittert er seine Chance: Er übt vor dem Spiegel hingebungsvoll den Hitlergruß, studiert die Phrasen der NS-Ideologen ein und biedert sich bei den Nazis an.
Und tatsächlich: er schafft es, Kontakte bis in die SS-Spitze aufzubauen und darf den Deutschen helfen - beim Bau des Konzentrationslagers Klooga. Mit genau diesem Todeslager zimmert sich der Wendehals nach Kriegsende eine neue Identität: Als die Deutschen das Land fluchtartig verlassen, zieht er sich Häftlingskleidung an und lässt sich als Augenzeuge der NS-Gräuel von den Sowjets retten, um sich nun bei ihnen anzudienen.
Roland ist das genaue Gegenteil von seinem Cousin Edgar. Er lebt bei den Waldbrüdern, die erst der Roten Armee und dann den Nationalsozialisten Widerstand leisten, und kämpft für seine Überzeugung, dass Estland eines Tages ein freies Land sein wird. Der mysteriöse Tod seiner Verlobten Rosalie, hinter dem er die Nazis vermutet, treibt ihn nur noch weiter in den Untergrund.
Edgars Frau Juudit weiß nicht so genau, auf welcher Seite sie steht. Sie wünscht sich nichts sehnlicher als eine Familie und kann sich nicht erklären, warum ihr Mann jede körperliche Nähe zu ihr meidet. Dass Edgar Männern hinterherschaut und sie nur geheiratet hat, um seine Biografie mit einer Ehefrau zu schmücken, ahnt sie nicht. Als Juudit sich in genau den SS-Mann verliebt, über den Edgar die Karriereleiter hinaufklettern will, und gleichzeitig Roland dabei hilft, Flüchtlinge außer Landes zu schaffen, wird sie zum Spielball der beiden Cousins.
Verrat und Heimtücke, Liebe und Familie
Nach Kriegsende erträgt Juudit ihr Leben nur noch im Alkohol- und Tablettenrausch, während Edgar penibel alle Hinweise tilgt, die auf seine Vergangenheit als Helfershelfer der Nazis hindeuten. Nur von Roland fehlt jede Spur. Aber Edgar weiß: Falls sein Cousin noch leben sollte, kann der ihm gefährlich werden. Und so heckt er - jetzt russischer Spitzel und Propagandist - einen perfiden Plan aus.
Sofi Oksanen hat mit "Als die Tauben verschwanden" einen packenden Roman über Intrigen, Verrat und Heimtücke, Liebe und Familie geschrieben. Bereits in zwei Büchern ("Stalins Kühe", 2003, und "Fegefeuer", 2008) hat sich die Tochter einer Estin und eines Finnen mit der Geschichte Estlands auseinandergesetzt. Dieses Mal taucht sie tief in die Jahre zwischen 1941 und 1966 ein.
Sie jagt ihre Figuren durch die totalitären Systeme, dass einem beim Lesen der Atem stockt. Erst zieht die Rote Armee metzelnd durch das Land, dann fällt die Wehrmacht ein und wird als Befreier willkommen geheißen, offenbart aber rasch ihr brutales Gesicht. 1944 feiern die Esten dann ihre Freiheit - die genau fünf Tage dauert. Dann okkupieren erneut die Sowjets für Jahrzehnte den Baltenstaat.
Ein wenig sperrig
In ihrem Roman versteht Oksanen es, das permanente Einschüchtern, Provozieren und Verschleiern durch die jeweiligen Besatzer Estlands sowie die Angst der Menschen mit Worten greifbar zu machen und erschafft mit Edgar einen Kollaborateur wie aus dem Lehrbuch, ohne den keine Diktatur funktionieren würde. Allerdings ist der Roman ein wenig sperrig geraten. Es ist nicht immer ganz einfach, der Geschichte zu folgen, da die Zeitebenen ständig wechseln und sich die Zusammenhänge der einzelnen Handlungsstränge erst nach und nach erschließen. Der Erzählstil Oksanens lebt von Andeutungen, aus denen man selbst die richtigen Schlüsse ziehen muss.
Am Ende hat die im Gothic-Style auftretende Galionsfigur der finnischen Literatur und deutliche Kritikerin des russischen Präsidenten Wladimir Putin und seiner Annexionspolitik vor allem eines erreicht: dass der Leser viel über die wechselvolle Geschichte des kleinsten der baltischen Staaten dazugelernt hat - besonders über die Zeit, in der das Gurren der Tauben verstummt war, weil die Nazis mit ihnen ihren Speiseplan bereicherten.
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Quelle: ntv.de