
6,7 Millionen der 18- bis 64-Jährigen in Deutschland "konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Etwa 1,6 Millionen Menschen dieser Altersgruppe gelten als alkoholabhängig", gibt das Bundesgesundheitsministerium an.
(Foto: imago images/Science Photo Library)
Ein Gläschen Rotwein ist gut fürs Blut, sagen viele. Tatsächlich bleibt es oft nicht bei dem einen. Unsere Kolumnistin über die Gesellschaftsdroge Alkohol, das Trinken und einen Mann, der daran zerbrach. Für Andreas.
Eines Tages, ich war noch ein Kind, als mein Vater mal wieder besoffen mit dem Rad in irgendeinen Vorgarten gefahren war, wo er dann in den Sträuchern seinen Rausch ausschlief, da begriff ich, dass er ein richtiger Säufer war. Als ich klein war, habe ich meinen Vater sehr oft betrunken gesehen. Das änderte sich erst durch einen schweren Unfall, als die Ärzte ihm die Pistole auf die Brust setzten und sagten: "Entweder Sie hören sofort mit der Sauferei auf oder Sie können Ihr Bein vergessen!"
Mein Vater wollte sein Bein natürlich behalten und blieb bis zu seinem Tode trockener Alkoholiker. Obschon mich das Schicksal meines Vaters geprägt hat, habe ich nie groß über das Trinken nachgedacht. Ich glaube, das machen tatsächlich die wenigsten, denn Alkohol ist Teil unserer Gesellschaft. Wir trinken gern, trinken gehört einfach dazu. Klar sollte man sein Limit kennen, aber der Prozess zwischen einem gemütlichen Wein am Abend und dem täglichen Konsum ist, wie wir alle wissen, ein schleichender. Und mit dem Trinken und dem Druck, auf Partys oder in Gemeinschaft nicht mit einem Glas Wasser dazustehen, werden auch die Ausreden größer. Der Selbstbetrug. Das schlechte Gewissen.
Gerade ist das "Sommerhaus der Stars" angelaufen - ein Reality-Format, bei dem acht Paare für ein paar Wochen in einem Bauernhaus in der deutschen Pampa weilen. Die Auftaktfolge war vor allem wegen zweier Herren erschreckend. Der eine lötete sich neun Gläser spanischen Rotwein aus dem Tetrapack rein, als sei es Fassbrause, der andere genehmigte sich schon zum Frühstück das erste Bier. "Morgens halb zehn in Deutschland", lautete nur ein Kommentar in den sozialen Medien. Wir schauen Leuten dabei zu, wie sie erst ihrer Sucht frönen und sich dann danebenbenehmen. Es ist - Unterhaltung.
Ich trinke ja nur "das gute Zeug"
Lange habe auch ich mir, um ehrlich zu sein, keine großen Gedanken um mein Trinkverhalten gemacht. Nach Feierabend und intensiver Textarbeit gönne ich mir ein Gläschen Rotwein. "Ist gut fürs Blut", hat Opa immer gesagt. Wenn ich mich über irgendetwas ärgere, trinke ich auch schon mal zwei - um runterzukommen, so rede ich es mir gern ein. Wenn ich nicht so klein wäre (1,60 Meter) und nicht nach zwei Gläsern Schlagseite hätte, würde ich vermutlich mehr zwitschern. Ich trinke ja nur "das gute Zeug", sage ich mir immer. Und vor allem keine harten Sachen. Ich habe Freunde, die mehrere Gläser Wodka Tonic trinken, wenn sie ausgehen. Das vertrage ich alles gar nicht und vielleicht sollte ich auch hier ehrlicherweise sagen: ein Glück!
Neulich hatte ich, das muss ich Ihnen an dieser Stelle unbedingt erzählen, einen sehr merkwürdigen Traum. Ich träumte von einem jungen Mann namens Andreas, mit dem ich einen der wildesten Sommer meines Lebens verbrachte. Er war einer der klügsten Menschen, denen ich jemals begegnet bin und als kleine Literaturstudentin im ersten Semester hing ich nur so an seinen Lippen, wenn er mir unterm Sternenhimmel Gedichte von Ernst Jandl vortrug.
"Über das Trinken und das Glück"
Andreas war ein so verrückter Hund, dass ich in meinen Erinnerungen ausgeblendet habe, dass er schon morgens den ersten Martini brauchte und bis zum Mittag bereits mehr als eine halbe Flasche Wein intus hatte. Wir tanzten, fuhren gemeinsam baden und bauten uns in Bäumen, die weit in den Badesee hineinwuchsen, Schaukeln. Immer mit dabei: der Alk.
Eines Abends, der Sommer hatte gerade eine Pause eingelegt, verletzte sich Andreas am Fuß. Es war eine offene Wunde. Statt zum Arzt zu gehen, behandelte er die Schmerzen mit Tabletten und Schnaps. Er war unausstehlich, es gab viel Streit. Einmal fand ich ihn schlafend vor seiner eigenen Wohnungstür. Er sagte: "Ich muss aufhören mit der Trinkerei. Ach, wäre ich doch nur nicht so schrecklich verliebt in das Gefühl, das sie mir gibt!" Er trank weiter, heftiger als je zuvor. Dass seine tiefblauen Augen immer gelber wurden und die Leber schon fast schlappmachte, sorgte ihn nur bis zum nächsten Glas.
Dazwischen immer wieder die schönsten Tage. Picknick im Grunewald mit Lektüre von Hemingway und Böll. Ausflüge ins Umland. Er auf dem Rad, ich auf dem Gepäckträger. Grillenzirpen, blühende Felder, Schmetterlinge, weniger Alkohol. Über uns der endlose Himmel. Dann kam der Herbst und mit ihm nicht nur der Blues der kalten Jahreszeit, sondern auch der tiefste Absturz. Einlieferung ins Krankenhaus. Entgiftung. Aggressivität. Hoffnungslosigkeit, Gruppensitzungen und Besuche bei den Anonymen Alkoholikern (AA). Erste AA-Medaillen, Rückfall, alles auf Anfang. Es kam der nächste Sommer und "der verrückte Hund" wollte plötzlich keinen Besuch mehr auf der Entgiftungsstation, nabelte sich ab und wir verloren uns nach und nach aus den Augen.
"Phantasien des Egos"
Kürzlich stolperte ich über das Buch "Nüchtern: Über das Trinken und das Glück" von Daniel Schreiber. Der Autor schreibt mit unglaublicher Wahrhaftigkeit über seine Alkoholsucht und fragt, "warum sich eine Gesellschaft eine Droge leistet und dann diejenigen stigmatisiert, die damit nicht umgehen können". Ursula May von HR2 Kultur bezeichnet Schreibers mutigen Essay als "eine fundierte Rede gegen das Trinken".
Lange habe ich mir eingeredet, das Trinken gehöre vor allem für einen Autoren einfach dazu. Auch in Schreibers Buch gibt es extra ein Kapitel, das auch genau so heißt: Arbeiten und Trinken. Obschon ich insgeheim weiß, nie mit den großen Literaten wie Jack Kerouac mithalten zu können, so redet man es sich schön, dass die größten Schriftsteller auch die größten Trinker waren.
Dabei erfüllt das Trinken, wie Schreiber schreibt, über den Rausch hinaus "psychoanalytisch gesehen, zwei Funktionen. Es hält die Phantasien des Egos aufrecht, und es hilft dabei, die Realität so weit auszublenden, dass man sie ohne größere Schwierigkeiten der Phantasie anpassen kann. (...)"
Als ich Schreibers Buch ausgelesen hatte, begegnete mir Andreas plötzlich in diesem Traum. Wir saßen gemeinsam auf diesem Baum, dessen Äste weit in unsere Badestelle ragten, und verknoteten die Seile für die Schaukel. Lachen. Enten im Schilf. Arschbomben. Tags darauf versuchte ich, ihn seit Langem wieder zu kontaktieren. Die Stimme am anderen Ende der Leitung sagte leise: "Ach, der Vater ist schon Jahre tot". Ich stammelte durchs Telefon: "Aber, aber ... er war doch bei den … er hat doch …" "Ja", sagte die Stimme wieder, "und dann hat er sich totgesoffen."
Quelle: ntv.de