Panorama

Intensivmediziner Janssens "1000 Tote pro Tag - wollen wir da wieder hin?"

Mediziner und Pflegekräfte auf den Intensivstationen arbeiten am Limit - und die Zahlen steigen weiter.

Mediziner und Pflegekräfte auf den Intensivstationen arbeiten am Limit - und die Zahlen steigen weiter.

(Foto: dpa)

Eine Notbremse soll kommen, doch ehe sie beschlossen ist, wird sie schon wieder von allen Seiten angegriffen. Intensivmediziner Janssens ist frustriert: "Wir können doch nicht jeden Tag aufs Neue alles diskutieren", sagt er im ntv-Interview. Er fordert von der gesamten Gesellschaft jetzt noch einmal einen Kraftakt.

ntv: Die Fallzahlen steigen, auch die tägliche Zahl der Toten liegt wieder deutlich über 300. Ist es zu provokant formuliert, wenn ich sage: Die Politik diskutiert kleinteilig und die Menschen sterben?

Uwe Janssens ist Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. Bis Ende 2020 war er Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.

Uwe Janssens ist Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital in Eschweiler. Bis Ende 2020 war er Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin.

(Foto: ntv)

Uwe Janssens: Nein, das ist nicht provokant, denn das entspricht den Tatsachen. Es ist leider Gottes so, dass wir steigende Fallzahlen haben, steigende Belegungszahlen haben, dass wir aber auch steigende Sterblichkeiten haben. Und wir erinnern uns: Über die Weihnachtszeit hatten wir über 1000 Tote pro Tag. Wollen wir da tatsächlich wieder hin? Wir haben doch alle das gleiche Ziel: Wir wollen raus aus dieser Pandemie, Sars-Cov-2 an den Rand bringen, die Intensivstationen entlasten und gemeinsam dann in einen guten Sommer und Herbst gehen.

Stattdessen sind wir von Einigkeit aber weit entfernt.

Wir können doch nicht jeden Tag aufs Neue alles diskutieren. Jetzt, wo das Infektionsschutzgesetz angeschoben wird, geht diese kleinteilige Diskussion weiter. Das ist das Ergebnis von zwölf Monaten Hin und Her. Andere Länder machen es uns da gut vor: In Irland gibt es eine Homepage, da steht genau drauf, was der Staat will. Da wird ein klares Ziel verfolgt, ein Maßnahmenkatalog präsentiert. Und da wird auch nicht rumdiskutiert.

Sie haben vor vier Wochen schon gesagt, wir brauchen den Lockdown. Und zwar besser gestern als morgen. Jetzt ist wieder ein Monat Zeit vergangen. Sind Sie verzweifelt?

Nein, aber wir sind einigermaßen enttäuscht. Wir machen aber weiter und weisen auf die Notwendigkeit eines Lockdowns hin. Ich habe immer schon gesagt: Wenn die Gesellschaft entscheidet, dass über 300 Tote pro Tag, ich sage mal überspitzt, egal sind, wäre ich von der Gesellschaft enttäuscht. Es ist erstaunlich, dass Leute vor Verwaltungsgerichte ziehen und gegen Ausgangsbeschränkungen klagen. Ich wäre mal sehr gespannt auf die erste Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, weil jemand gestorben ist. Ein Tod, der verhinderbar gewesen wäre. Ich glaube, da fehlt die Verhältnismäßigkeit. Wir klagen um unsere Freiheit, aber wenn Leute sterben, scheint uns das egal geworden zu sein.

Macht es Ihnen Sorgen, dass zunehmend jüngere Menschen mit schweren Covid-Symptomen in die Notaufnahmen kommen?

Es war abzusehen, dass die veränderten Bedingungen des Virus mit höheren Ansteckungsraten und der Einbeziehung der jüngeren Population auch für schwere Krankheitsverläufe sorgen werden. Das ist ja immer auch eine Frage der Menge. Wenn sich viele Jüngere anstecken, werden da auch Fälle darunter sein, die einen ungünstigen Verlauf nehmen.

Blicken wir mal auf die Menschen, die Corona überstanden haben. Wie lange haben die noch mit den Folgen zu kämpfen?

Wir haben zwei große Gruppen: Zum einen die sehr große Gruppe, die eigentlich eher einen milden Verlauf hatte, die nicht auf einer Intensivstation behandelt werden musste. Diese Menschen können ein postvirales Erschöpfungssyndrom entwickeln mit verschiedenen Symptomen. Man nennt das ja mittlerweile Long Covid. Zum anderen gibt es diejenigen, die eine schwere Intensivtherapie überlebt und wochenlang auf einer Intensivstation gelegen haben. Diese Personen kämpfen mit dem sogenannten Post-Intensiv-Syndrom. Sie haben schwerste Muskelschwächen, schwerste sogenannte Neuropathie-Missempfindungen, also Nervenreaktionen. Sie sind kaum in der Lage, eigenständig ihren Alltag zu verrichten und brauchen einen langen Rehabilitationsprozess.

Die Leistungssportlerin Steffi Krieger, eine Kanutin, die bei Olympia einmal Silber geholt hat, kann nicht mit nach Tokio fahren. Sie hatte Corona und kann jetzt nicht mal mehr Treppen steigen oder dem Bus hinterherlaufen. Wie oft kommt sowas vor?

Genaue Zahlen fehlen noch, aber wir schätzen, dass ein bis zwei Drittel an unterschiedlich ausgeprägten Symptomen leiden. Wir wissen, dass nahezu jedes Organ im weiteren Verlauf eine Störung entwickeln kann. Das zusammenzuführen wird die Aufgabe der Wissenschaft in den nächsten Monaten sein. Wir werden im Jahr 2022 viele Studien dazu lesen und vielleicht auch mehr verstehen, was dazu führt. Aber eins muss man sagen - und da sind wir am Anfang unseres Gesprächs: Zu verhindern, dass so was auftritt, bedeutet, Infektionen zu verhindern. Wenn ich Long Covid oder Langzeitschäden verhindern will, muss ich am Anfang ansetzen. Und das ist die Aufgabe, die die Gesellschaft jetzt gemeinschaftlich meistern muss - und nicht die Intensivmediziner.

Mit Uwe Janssens sprach Doro Steitz

Quelle: ntv.de

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