Panorama

"Wir wollen das Land befreien" Besuch bei Haitis mächtigstem Gangsterboss

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Der haitianische Gangsterboss Jimmy "Barbecue" Chérizier terrorisiert den Inselstaat. Jetzt will er sich ein neues Image geben - er stellt sich als Revolutionär dar, der gegen eine korrupte Regierung kämpft.

Haiti ist seit Jahren ein Land am Abgrund: Erdbeben, Hurrikans und immer mehr Gewalt. Bei jedem Besuch dort ist die Lage schlimmer. Die Straßen sind leer bei unserer Ankunft. Es gibt keinen Sprit, seit Wochen nicht mehr. Was in anderen Ländern nur für weniger Verkehr sorgt, legt in Haiti gleich das ganze Land lahm. Denn ohne Dieselgeneratoren gibt es kaum Strom. Krankenhäuser sind am Limit, Kinderstationen wissen nicht, wie lange sie die Frühgeborenen noch wärmen und beatmen können.

Und es gibt einen Mann, der dafür verantwortlich ist: Jimmy Chérizier, genannt "Barbecue". Er ist der mächtigste Gangsterboss in Haiti, seit er sich mit acht weiteren Gangs zusammengeschlossen hat zur "G9" oder wie Chérizier sagt zur "G9-Familie".

In den Straßen türmt sich der Müll und stinkt.

In den Straßen türmt sich der Müll und stinkt.

(Foto: ntv)

Chérizier hat die Treibstoff-Depots im Hafen blockiert und seine Männer haben Lastwagen mit Benzin und Diesel überfallen, die Fahrer entführt. Wir wollen den Mann treffen, seit Tagen versuchen wir das über verschiedene Mittelsmänner.

Um 5 Uhr morgens kommt die Nachricht, "Barbecue" sei bereit - jetzt. Ein Treffpunkt im Zentrum von Port-au-Prince. Dort sollte man sich nicht aufhalten. Seit einer Woche gibt es dort täglich Schießereien, Kidnappings sind an der Tagesordnung und das nicht erst seit der Entführung von amerikanischen Missionarsfamilien vor vier Wochen.

"Wir machen den Leuten da oben Angst"

Wir müssen mit Motorrädern weiter in den Süden der haitianischen Hauptstadt fahren. Mit dem Auto kommt man nicht durch. Die Zufahrtstraßen zum Slumviertel La Saline haben die Gangmitglieder mit alten Schulbussen gesperrt. Ab jetzt ist es verdächtig ruhig. Die Marktstände links und rechts sind verwaist. In den Straßen türmt sich der Müll und stinkt.

Erst als wir an der zweiten Straßenblockade vorbei sind, belebt sich die Straße wieder. Und dann stehen wir im Zentrum von La Saline. Jimmy Chérizier gibt hier seit ein paar Wochen Pressekonferenzen, aber nur für ausgewählte Medien. Der Gangsterboss will weg vom Image des Bösen.

Port-au-Prince ist von Armut geprägt.

Port-au-Prince ist von Armut geprägt.

(Foto: ntv)

Und deshalb gebe er für kurze Zeit die Treibstoff-Depots wieder frei, aus humanitären Gründen, verkündet er. Er zeigt mit dem Finger nach hinten und sagt: "Wir haben Glück. Die Depots sind direkt hinter unserem Viertel, dahinten. Wir haben das in den Händen." Mit seiner Treibstoff-Blockade erpresst er die Regierung: "Wir, die G9-Familie, fordern den Rücktritt von Premierminister Ariel Henry. Damit mobilisieren wir die Menschen, das macht den Leuten da oben Angst."

Chérizier trägt Camouflage-Uniform und hat ein automatisches Gewehr umgehängt. Ohne die Knarre geht er nicht raus. Der 45-Jährige war früher Polizist, aber nach einem Massaker 2018 hier im Viertel La Saline mit Dutzenden Toten, wurde er gefeuert. Chérizier und zwei hohe Regierungsbeamte sollen damals beteiligt gewesen sein.

Hähnchen oder Mord?

Der Gangsterboss streitet alles ab: "Ja, hier gab es das Massaker, aber glauben Sie, wenn ich das verübt hätte, dann könnte ich hier herumlaufen? Da steckt das korrupte System dahinter, die Politiker."

Jimmy Chérizier gibt Interviews - der Gangsterboss will weg vom Image des Bösen.

Jimmy Chérizier gibt Interviews - der Gangsterboss will weg vom Image des Bösen.

(Foto: ntv)

Er wolle nur Gutes für sein Viertel tun, die Eliten und der Rassismus seien schuld daran, dass es den Menschen hier so schlecht geht, behauptet er. Er sieht sich als Revolutionär. Der Gangsterboss führt mich durchs Armenviertel und sagt: "Ich bin einer von ihnen, von diesen Menschen hier. Ich komme auch aus einer armen Familie." Seine Mutter habe gegrillte Hähnchen verkauft. Deshalb trage er auch den Beinamen Barbecue: "Bei uns gab es viele Jimmys in der Nachbarschaft, um uns zu unterscheiden hieß der eine Jimmy Fußball, und ich eben Jimmy Barbecue."

Andere meinen, er habe so viele Hütten in Brand gesteckt, Menschen seien verbrannt. Deshalb habe man ihn Barbecue genannt.

Vor einer Hütte hält er an. Ein ausgemergelter Mann sitzt da mit drei kleinen Kindern, einen Säugling auf dem Arm. In der Ecke liegt eine Decke, da schlafen sie. Eine Matratze gibt es nicht. Es gibt hier im Viertel keine staatliche Wasser- und Abwasserversorgung, keine Müllabfuhr, nichts. Jimmy Chérizier will das ändern, sagt er. Die Gang bestimmt alles, hier herrschen eigene Gesetze. Doch den Menschen geht es dadurch nicht besser, eher schlechter. Allen Versprechungen von Jimmy Chérizier zum Trotz.

"Der Befreiungskampf fordert Opfer"

Gegen Chérizier läuft ein Haftbefehl, aber er ist weiter auf freiem Fuß. Wenn er mit seinen Männern durchs Viertel läuft, ist auch klar, warum. Mit Gewehren und Sturmmasken marschieren sie auf. Als ich wissen will, wie viele Männer er unter Waffen hat, grinst er: "Das kann ich doch nicht sagen, aber es sind viele." Wenn er so mächtig sei, dann könne er doch die amerikanischen Geiseln von der verfeindeten Gang "400Mawozo" befreien, frage ich ihn. Chérizier antwortet: "Wir, die G9-Familie, sind bereit, mit dem Staat zusammenzuarbeiten und gegen die Entführer zu kämpfen." Und dann fügt er hinzu: "Aber wir warten, bis wir eine stabile Regierung haben."

Der Gangsterboss will die Übergangsregierung von Premier Ariel Henry stürzen: "Der Befreiungskampf für das Land fordert Opfer. Ich und die G9-Familie, wir wollen das Land befreien." Und fügt hinzu: "Wir kämpfen für ein anderes Haiti, für ein Haiti, ohne Entführungen, ohne Vergewaltigungen. Ein Haiti, das sicher ist, wo Menschen jederzeit ohne Angst auf die Straße gehen können."

Das klingt nach Robin Hood, aber Jimmy Chérizier ist Gangsterboss. Als wir wieder auf dem Motorrad sitzen und aus dem Viertel rausfahren, fährt auch Erleichterung mit.

Am nächsten Tag öffnen die ersten Tankstellen, Autos und Motorräder stehen in langen Schlangen, warten auf Sprit. Die Stimmung ist angespannt. Die Leute prügeln sich fast. Polizisten versuchen das Schlimmste zu verhindern. Zwei Tage später herrscht in Port-au-Prince wieder das gleiche Verkehrschaos wie immer.

Quelle: ntv.de

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