"Spitze des Eisbergs" Mehr als 2200 Missbrauchsopfer in evangelischer Kirche
25.01.2024, 12:59 Uhr
Bei Missbrauch in der Kirche ging es bisher in erster Linie um Katholiken. Doch nun untersucht ein Forschungsteam erstmals sexuelle Gewalt in der evangelischen Kirche. Das Ergebnis schockiert: Die Zahl der Missbrauchsopfer ist deutlich höher als bislang angenommen - aber auch die der mutmaßlichen Täter.
Eine Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie hat für die vergangenen Jahrzehnte mindestens 1259 Beschuldigte dokumentiert. Demzufolge wurden mindestens 2225 Menschen missbraucht. 64,7 Prozent der Opfer sind laut der Studie männlich und rund 35,3 Prozent weiblich. Die unabhängigen Wissenschaftler sprechen von der "Spitze des Eisbergs". Die Evangelische Kirche war bislang von rund 900 Missbrauchsopfern ausgegangen.
Die ermittelten Fallzahlen von 2225 Opfern basieren auf Akten der Landeskirchen und der Diakonie, außerdem flossen den Landeskirchen und diakonischen Werken bekannte Fälle ein. Die Wissenschaftler gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Die tatsächliche Anzahl könnte laut Hochrechnung bei 9355 sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen sowie 3497 Beschuldigten liegen.
Die EKD hatte die Studie 2020 initiiert. Die Studie wurde mit 3,6 Millionen Euro finanziert. Ziel war, evangelische Strukturen zu analysieren, die Gewalt und Machtmissbrauch begünstigen. Für die vorgelegte Studie hätten jedoch - anders als vereinbart - nur ein kleiner Teil der Personalakten ausgewertet werden können, kritisierten Experten.
Für die Untersuchung in der evangelischen Kirche standen demnach insgesamt weniger Quellen zur Verfügung als bei einer vergleichbaren Untersuchung in der katholischen Kirche, heißt es. Lediglich in einer der 20 Landeskirchen hätten "exemplarisch" alle Personalakten - und nicht nur die Disziplinarakten - untersucht werden können. Das Ergebnis: Knapp 60 Prozent der Beschuldigten und knapp 75 Prozent der Opfer wären in dieser Landeskirche ohne Personalaktendurchsicht unentdeckt geblieben.
"Zutiefst erschüttert"
Als Dachorganisation von 20 Landeskirchen vertritt die EKD bundesweit 19,2 Millionen evangelische Christinnen und Christen. Betroffene sexualisierter Gewalt können bislang einen Antrag auf individuelle freiwillige Leistungen stellen. Diese orientieren sich laut EKD an Schmerzensgeldzahlungen und liegen in der Regel zwischen 5000 und 50.000 Euro. Bis Ende 2022 hatten die Landeskirchen der EKD 858 Anträge auf derartige Anerkennungsleistungen gemeldet.
Die amtierende Ratsvorsitzende der EKD, Kirsten Fehrs, bat bei der Vorstellung der Studie um Entschuldigung. "Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht", sagte die Hamburger Bischöfin in Hannover. Sie könne nur "von ganzem Herzen" um Entschuldigung bitten.
Fehrs sagte, das Gesamtbild, das die Studie zeige, habe sie "zutiefst erschüttert". "Immer wieder neu, seit ich mich mit dem Thema befasse, erschüttert mich aufrichtig diese abgründige Gewalt, die so vielen Menschen in unserer Kirche angetan wurde", sagte die Bischöfin. Die Ergebnisse der Studie werde die Kirche mit Demut annehmen. Noch offen ist, ob die EKD auch auf die Forderung der Wissenschaftler nach systematischer und vollständiger Akteneinsicht eingeht.
Quelle: ntv.de, hny/dpa