Sozial benachteiligt Muslime in Indien
29.11.2008, 13:40 UhrNizamuddin West ist ein muslimisches Armenviertel in Neu Delhi, hier ist nichts von der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Indien zu spüren. Menschenmassen schieben sich durch die engen Gassen, dazwischen spielen dreckige Kinder. Händler verkaufen am Straßenrand Süßigkeiten, zwischen Unmengen an Fliegen köpft ein Schlachter auf einem blutigen Brett Hühner, die neben ihm im Käfig auf ihren Tod warten. Fragen ausländische Journalisten nach den Angriffen von Bombay, die muslimischen Terroristen zugeschrieben werden, wird die Stimmung eisig. Viele Muslime hier wollen gar nicht über die Angriffe reden. Manche von denen, die es doch tun, werden von Umstehenden aggressiv aufgefordert, das Gespräch abzubrechen.
Nur wenige Stunden dauerte es nach Beginn der Terrorangriffe, da zogen indische Medien schon eine Verbindung zu muslimischen Terroristen. "Muslime werden sofort verantwortlich gemacht", sagt ein 50-jähriger Anstreicher in Nizamuddin-West, der seinen Namen nicht nennen will. "Es ist ungerecht, dass eine ganze Gemeinschaft angeklagt wird, obwohl nur einige Wenige Anschläge verüben." Früher hätten Hindus und die muslimische Minderheit in Indien friedlich zusammengelebt, mittlerweile sei das nicht mehr so. "Ein Muslim muss immer in Angst leben", sagt er, dann zerren ihn Umstehende davon. Einer von ihnen ruft noch: "Was in Bombay passiert ist, hat nichts mit den Muslimen in Delhi zu tun."
Gewalt gegen Muslime
Dass Angst gerechtfertigt sein kann, haben die Massaker in Gujarat bewiesen, die allen indischen Muslimen in bitterer Erinnerung geblieben sind. In dem westindischen Bundesstaat brach sich im Jahr 2002 nach einem Anschlag auf einen Zug mit hindu-nationalistischen Pilgern die Gewalt gegen Muslime Bahn. Unter den Augen der Sicherheitskräfte ermordeten radikale Hindus mehr als 1000 Menschen. Männer, Frauen und Kinder wurden auf unvorstellbar barbarische Art und Weise niedergemetzelt. Der Regierung Gujarats unter dem hindu- nationalistischen Ministerpräsidenten Narendra Modi wurde vorgeworfen, die Massaker nicht verhindert zu haben, sondern die Massen auch noch aufgehetzt zu haben. Modi regiert noch heute.
Im vergangenen September kam es erneut zu einem Ereignis, dass die muslimische Minderheit empörte. Nach Anschlägen in Malegaon im westindischen Bundesstaat Maharashtra, dessen Hauptstadt Bombay ist, machten die Behörden reflexartig die üblichen Verdächtigen verantwortlich: muslimische Terroristen. Inzwischen deuten die Ermittlungen aber darauf hin, dass radikale Hindus, die von einem Armeeoffizier unterstützt worden sein sollen, die wahren Urheber der Anschläge von Malegaon sind. Dass ausgerechnet der Chef-Ermittler in dem Fall nun bei der Terrorserie in Bombay getötet wurde, facht unter indischen Muslimen Verschwörungstheorien an. Möglicherweise, meinen einige von ihnen, seien die Angriffe nur inszeniert worden, um den Ermittler zu töten.
"Als Terroristen oder Verräter beschimpft"
Diese These ist zwar abwegig. Eher begründet sind aber Klagen der Muslime über ihre soziale Benachteiligung. Ein im Auftrag der indischen Regierung erstellter Bericht zeichnete Ende 2006 ein düsteres Bild. Demnach ist die Analphabetenquote unter Muslimen deutlich höher als der nationale Durchschnitt, sie haben weniger Zugang zu Bildung, bekommen geringere Bankkredite und sind ärmer. Im öffentlichen Dienst sind sie ebenso unterrepräsentiert wie bei der Bahn - einem der größten Arbeitgeber Indiens -, in den Universitäten oder etwa im Gesundheitswesen. In den indischen Metropolen leben Muslime oft in abgeschotteten Vierteln, anderswo eine Wohnung zu finden, ist für sie schwierig - selbst wenn sie gut verdienen.
Zwar gelingt es indischen Muslimen immer wieder, selbst in höchste Ämter zu kommen: So war der überaus beliebte vorige Präsident Indiens, A. P. J. Abdul Kalam, der Sohn eines muslimischen Fischers aus dem Süden des Landes. Doch für die Masse der Muslime hat das nicht zur Verbesserung ihrer Lebensumstände geführt.
"Wenn unsere Gemeinschaft versucht, ihre Stimme gegen die Ungerechtigkeiten zu erheben, werden wir als Terroristen oder Verräter beschimpft", beklagt ein älterer Mann vor der Moschee in Nizamuddin-West, der weder seinen Namen noch sein Alter oder seinen Beruf nennen will. "Unter diesen Umständen wäre jeder frustriert." Er will die Benachteiligungen nicht mehr hinnehmen. "Unsere Vorfahren haben für die Unabhängigkeit Indiens gekämpft, nun müssen wir eine zweite Schlacht kämpfen, um unsere Rechte zu bekommen. Wir haben keine Angst." Ob diese Schlacht gewaltsam geführt werden müsse? Nein, betont der Mann. "Gewalt ist nicht gerechtfertigt."
Quelle: ntv.de, Can Merey, dpa