"Himmelschreiendes Unrecht" Odenwaldschule diskutiert
16.04.2010, 19:26 Uhr"Die Odenwaldschule ist Tatort, nicht Täterin", sagt Schulleiterin Kaufmann, die für den Neuanfang steht. Unter dem Eindruck des Missbrauchsskandals begeht die Reformschule im südhessischen Heppenheim ihr100-jähriges Bestehen.
Margarita Kaufmann bekommt Applaus von allen. Die Leiterin der renommierten Odenwaldschule steht für den Neuanfang, den das Internat nach den Missbrauchsfällen sucht. "Es ist himmelschreiendes Unrecht geschehen", sagt die 54-Jährige bei einer Podiumsdiskussion mit ehemaligen Schülern. Die Theaterhalle der Schule in Heppenheim in Hessen kann die Menschen kaum fassen. 200 Plätze stehen zur Verfügung. Wer keinen Stuhl gefunden hat, steht an der Wand oder sitzt auf der Heizung.
Das Hauptinteresse auf dem Podium gilt den Altschülern Amelie Fried, Quintus von Tiedemann, Johannes von Dohnanyi und Thomas Bockelmann. Sie sind gekommen, um über die Übergriffe aus der Zeit zwischen 1966 und 1991 zu reden. Die Schule spricht von etwa 40 Opfern beiderlei Geschlechts. Die Staatsanwaltschaft ermittelt zwar gegen elf ehemalige Lehrer, hält aber die Fälle für verjährt. Die Podiumsdiskussion ist extra zum Jubiläums-Wochenende anlässlich des 100-jährigen Bestehens angesetzt, weil die Schule nach dem erneuten Bekanntwerden der Fälle seit sechs Wochen nicht mehr zur Ruhe kommt.
Ikone der Reformpädagogik?
Reizfigur ist der frühere Schulleiter Gerold Becker, eine Ikone der Reformpädagogik. Er war von 1969 bis 1985 an der Privatschule und gilt als Hauptbeschuldigter. Er hat Übergriffe zugegeben. "Für mich ist der geniale Becker gestorben", urteilt der 50 Jahre alte Tiedemann, heute Geschäftsführer eines Unternehmens. Der 58 Jahre alte Journalist von Dohnanyi ist in seinem Urteil wesentlich milder: "Gerold Becker war ein wunderbarer Pädagoge."
Übereinstimmend beschreiben die Ehemaligen den Geist der damaligen Zeit. "Das war mit Pille, aber vor Aids", charakterisiert Bockelmann die Atmosphäre. Gelegenheit mache Diebe. Und so viel sei gar nicht unter den Teppich gekehrt worden. Immerhin hätten damals Schüler gereimt: "Der Becker, der Becker, der findet Jungens lecker."
Tiedemann hat eine zwiespältige Erinnerung an die idyllisch gelegene Schule. "Es gab permanente Grenzverletzungen. Aber wir müssen den Ball flach halten. Die, über die wir reden, sind nicht da."
Suche nach dem Geist der Odenwaldschule
Und die Zukunft? "Ich bin hiergekommen um zu sehen, ob es den vielbeschworenen Geist der Odenwaldschule noch gibt", sagt die 51- jährige Autorin Fried. Die Schule müsse auch bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle beispielhaft sein.
Dies ist nicht einfach. "Wir bekommen 70 bis 100 Emails am Tag", schildert Schulleiterin Kaufmann die Reaktionen. "Es gibt tausend Erwartungen an uns. Wir sind aber dankbar für die vielen Menschen, die uns die Hand ausgestreckt haben. Die Odenwaldschule ist Tatort, nicht Täterin."
Quelle: ntv.de, Joachim Baier, dpa