Panorama

Psychodrill und immer wieder Hiebe Wie Zwölf Stämme ihre Kinder brechen

Die Sekte beruft sich auf das Alte Testament: Wen der Herr liebt, den züchtigt er.

Die Sekte beruft sich auf das Alte Testament: Wen der Herr liebt, den züchtigt er.

(Foto: picture alliance / dpa)

Zwei Jahrzehnte lebt Robert Pleyer bei den Zwölf Stämmen. Er unterwirft sich den Regeln der radikal-religiösen Gemeinschaft, bricht den Willen seiner Kinder, züchtigt sie mit der Weidenrute. Alles im Namen der Liebe. Dann schafft er den Absprung.

Vor gut einem Jahr nehmen Beamte im bayerischen Klosterzimmern und im fränkischen Wörnitz rund 40 minderjährige Kinder in staatliche Obhut. Sie befreien sie aus den Fängen einer urchristlichen Glaubensgemeinschaft, die sich Zwölf Stämme nennt. Der Grund: Schläge in der Erziehung und Schulverweigerung – wegen dieser beiden Dinge steht die Sekte schon seit Jahren im Visier der Behörden.

Zwölf-Stämme-Sekte
  • Die Zwölf Stämme (The Twelve Tribes) sind eine urchristliche Glaubensgemeinschaft, die in den 1970er-Jahren in den USA gegründet wurde.

  • Ihre Anhänger leben streng nach der Bibel, die sie wortwörtlich auslegen. Grundlage ihres Lebens ist der Gehorsam zu den Worten Jahschuas, des Messias.

  • Die Mitglieder leben und arbeiten in streng hierarchisch aufgebauten Kommunen zusammen.

  • Alle tragen lange Haare und wallende Kleider, sie glauben, dass die Welt 2026 untergeht, dass alle vom Satan besessen sind.

  • Sie weigern sich aus "Gewissensgründen", ihre Kinder in staatliche Schulen zu schicken - ein Grund ist der Sexualkundeunterricht.

  • Die Gemeinschaft hat weltweit schätzungsweise 2000 Mitglieder, darunter etwa 1200 Kinder. In Deutschland lebten zwischenzeitlich ungefähr 150.

Heute weiß man, dass die bibeltreue Gemeinschaft das Buch der Büc her streng auslegt. Zu streng. In ihrem Erziehungshandbuch wird das Alte Testament zitiert. "Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in die Zucht." So heißt es in Sprüche 13,24. "So machen sie es", sagt Robert Pleyer im Gespräch mit n-tv.de. So hat er es gemacht. 20 Jahre lang.

Zwei Jahrzehnte, in denen er den Glaubensregeln folgend seinen Kindern Ungeheuerliches zufügt. Es fängt schon bei den ganz Kleinen an. "Die Zwölf Stämme sagen, dass ein Kind im Alter von acht oder neun Monaten ein Eigenleben entwickelt. Ab diesem Moment wird das Kind solange festgehalten, bis es zur Ruhe kommt", beschreibt Pleyer die Erziehungsmethode, die "Restraint" heißt. Pleyers Tochter Asarah ist noch ein Säugling, als er die schmerzhafte Tortur zum ersten Mal bei ihr anwendet. Dabei hält er ihren kleinen Körper fest, lässt nicht locker, auch nicht, als sie sich wehrt, sich nach hinten beugt und zu schreien beginnt. Er hält sie fest, bis die roten Äderchen auf ihren Wangen platzen, bis sie ruhig wird. Es dauert eineinhalb Stunden, dann hat er Asarah niedergerungen, sie innerlich gebrochen. "Das waren furchtbare Momente für mich als Vater", sagt er heute.

Mit Anfang 20 stößt Pleyer zu den Zwölf Stämmen. Damals ist er auf der Suche nach einem neuen Sinn im Leben. Einem Leben, in dem es nicht nur um materielle Werte geht, sondern um Freundschaft, um Liebe und um Spiritualität. In der Sekte findet der Student aus bürgerlichen Verhältnissen, wonach er sucht. Er fühlt sich geborgen, geliebt und befreit. "Dort in der Gemeinschaft hatte ich Aufgaben, die mir wirklich Freude gemacht haben. Ich war jahrelang Lehrer, ich habe Kinder unterrichten dürfen, ich habe mit jungen Männern zusammen eine Bäckerei aufgebaut, ich habe sehr viel über Brotteige gelernt."

Vier bis fünf Hiebe mit der Weidenrute

Robert Pleyers Buch über seine Zeit bei den Zwölf Stämmen ist im Knaur-Verlag erschienen.

Robert Pleyers Buch über seine Zeit bei den Zwölf Stämmen ist im Knaur-Verlag erschienen.

Doch was als Sinnsuche begann, wird irgendwann zum Martyrium. Hinter der Fassade einer alternativen Lebensweise spielt sich Ungeheuerliches ab. Von einem friedlichen, harmonischen Zusammenleben kann keine Rede sein. In einer Gemeinschaft, die keine Individualität mehr kennt, unterwerfen sich Frauen und Männer den willkürlichen Gesetzen des Ältestenrates. Am schlimmsten aber ist die Kindererziehung. "Kind sein, spielen, Fantasie haben - das findet bei den Zwölf Stämmen alles nicht statt. Die Kinder in der Sekte leben wie kleine Erwachsene", so Pleyer.

Das wichtigste Ziel der Erziehung ist es, die Kinder unter Kontrolle zu bringen und die Kontrolle aufrechtzuerhalten. Schon als junger Lehrer muss Pleyer seine Schüler Tag für Tag in eigens dafür vorgesehenen "Disziplinarräumen" züchtigen. Auf jeden Ungehorsam folgen vier bis fünf Hiebe auf den Po - verabreicht mit dünnen Weidenruten. "Man muss verstehen, dass in solchen Gruppen Begriffe neue Bedeutungen bekommen. Das heißt, wenn ich Gott gefallen möchte, dann muss ich auch Sachen tun, die mir nicht gefallen."

Es dauert lange, bis Pleyer begreift, welchem Irrglauben er erlegen ist und dass bedingungsloser Gehorsam die Kinder geistig und emotional verkümmern lässt. Dass ihnen die Fähigkeit genommen wird, jemals in ihrem Leben eigene Entscheidungen zu treffen. Viel mehr noch als der körperliche Drill schade den Kindern der "psychische Knacks", glaubt Pleyer. "Weil sie sich in der Sekte nicht frei entfalten können, kein eigenes Gedankengut, keine eigenen Meinungen haben dürfen. Stattdessen findet alles in Wir-Gedanken statt."

Die ungeschönte Wahrheit für die Kinder

Pleyers Versuche, sich gegen die Regeln der Gemeinschaft aufzulehnen, werden hart bestraft. Demütigungen sind an der Tagesordnung. Zweimal muss er sechs Monate lang in Isolation leben, ehe er Frau und Kinder wiedersehen darf. Nach drei Anläufen schafft Pleyer schließlich doch den Ausstieg. 2011 verlässt er die Sekte, nimmt Ehefrau und Kinder mit. Doch seine Frau, die bei den Zwölf Stämmen aufgewachsen ist, kehrt wenig später wieder zurück. Die Scheidung läuft. Pleyer wohnt inzwischen mit seinen vier Kindern und seiner neuen Partnerin im Bayerischen Wald. Die Kinder besuchen Schule und Kindergarten, "dürfen spielen, Freizeit und Freunde haben". Die Freude über sein neues selbstbestimmtes Leben ist groß, aber noch immer plagen ihn die Erinnerungen an früher.

"Ich schäme mich dafür, was ich in meinen eigenen Kindern zerstört habe. Wenn ich heute daran denke, wie ich meine Kinder immer wieder mit der Weidenrute geschlagen haben, verzweifele ich an mir selbst", beschreibt Pleyer in seinem Buch "Der Satan schläft nie". Er hat es für seine Kinder geschrieben, damit sie später ungeschönt nachlesen können, was sie erlebt haben und vor allem warum. Und er will andere davor warnen, die gleichen Fehler zu machen wie er.

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Quelle: ntv.de

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