Aktivistin bei Maischberger "In Russland herrscht Panikstimmung"
18.10.2022, 12:42 Uhr (aktualisiert)
Vor der aktuellen Kriegssituation habe Memorial schon lange gewarnt, sagt die Historikerin.
Die Menschenrechtsorganisation Memorial wird dieses Jahr mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Ihre Gründerin Irina Scherbakowa ist Gast in der ARD-Talkshow "Maischberger". Gemeinsam mit Sicherheitsexpertin Claudia Major analysiert sie die Situation in Russland und der Ukraine.
Irina Scherbakowa kann es noch immer nicht fassen. Die von ihr gegründete russische Menschenrechtsorganisation Memorial wird in diesem Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Gemeinsam mit zwei weiteren Preisträgern aus Belarus und der Ukraine dokumentiert sie Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und Machtmissbrauch in den drei Ländern – und das schon seit mehr als dreißig Jahren.
Ursprüngliches Ziel der bereits in der Sowjetunion gegründeten Organisation Memorial war es, die Erinnerungen an die Menschenrechtsverletzungen während der kommunistischen Herrschaft in ihrem Land zu dokumentieren und aufrechtzuerhalten. Inzwischen dokumentiert Memorial auch Menschenrechtsverletzungen im heutigen Russland. Das passt den Machthabern dort nicht: Ende vergangenen Jahres ordnete das oberste russische Gericht die Schließung der Organisation an.
Scherbakowa lebt heute in Deutschland, doch sie telefoniert täglich mit ihren Kollegen in der Heimat. Dass ihre Arbeit mit dem Friedensnobelpreis geehrt wird, hätten sie in einem Gerichtssaal erfahren, erzählt Scherbakowa. Da erfuhren ihre Kolleginnen, dass man die Büroräume der Organisation gekündigt habe. Über den Preis ist sie glücklich. "Das war ein unglaubliches Gefühl", sagt sie bei Maischberger. "Und es ist ganz, ganz wichtig für uns, dass der Preis auch an die Kollegen in der Ukraine geht. Wir kennen sie schon lange und bewundern ihre Arbeit."
"Man fühlt sich in der Kassandrarolle"
Vor der aktuellen Kriegssituation habe Memorial schon lange gewarnt, sagt die Historikerin. "Wir haben mit sehr vielen deutschen Politikern gesprochen, außer mit der AfD. Und wir haben immer gesagt: Schauen Sie in die Geschichte. Wenn man ständig von Nationalismus redet und einen Krieg heraufbeschwört, kann die Reise nicht gut gehen. Und nun ist es passiert. Da fühlt man sich plötzlich in der Kassandrarolle."
Sie sei Pazifistin, erklärt Scherbakowa. Trotzdem sei ihr klar, dass man jetzt die Ukraine unterstützen müsse, auch mit Waffen. Die Ukraine müsse den Krieg gewinnen, die Kriegsverbrecher müssten vor ein Tribunal gestellt werden. Dann sei vielleicht auch wieder eine Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine möglich.
"Moskau ist entleert"
Der größte Fehler von Russlands Präsident Putin war der Befehl zur Mobilmachung, davon ist Scherbakowa überzeugt. "Dieser Krieg ist von Anfang an nicht so bejubelt worden wie die Annexion der Krim 2014. Am Anfang waren die Menschen nicht so erfreut, aber jetzt herrscht Panikstimmung", beschreibt Scherbakowa die Situation in ihrem Land nach der Mobilmachung. "Moskau ist völlig entleert. Da sieht man keine Männer auf der Straße."
Dennoch glaubt sie nicht an eine Entmachtung Putins. Schon seit Kriegsbeginn seien auf Polizeistationen und in Straflagern Menschen verprügelt und gefoltert worden. Ein Politiker sei zu sieben Jahren Haft verurteilt worden, weil er das Wort "Krieg" ausgesprochen habe. Auf der anderen Seite wisse man aber, dass viele eingezogene Soldaten sterben, noch bevor sie die Front erreichen – vor Kälte, durch Gewalt, nach Alkoholexzessen. "Die Hoffnung ist, dass die Stimmung vielleicht doch unerwartet umkippt in Russland", so Scherbakowa.
"Angriffe auf Kiew sind Kriegsverbrechen"
Sicherheitsexpertin Claudia Major analysiert unterdessen bei Maischberger die aktuelle Lage im ukrainischen Kriegsgebiet. Mit der Zerstörung der Krim-Brücke, einem Prestigeprojekt Putins, sei die Versorgung der russischen Truppen im Süden der Ukraine und der Bevölkerung der Krim deutlich schwieriger geworden. "Wichtig ist aber auch der psychologische Faktor: Das Gefühl, Russland kann das eigene Gebiet nicht schützen", sagt Major.
Die Raketenabwürfe auf die Ukraine nennt sie "Kriegsverbrechen"." Sie seien ausschließlich auf zivile Ziele und die Bevölkerung gerichtet, und das widerspräche der Genfer Friedenskonvention. An einen Angriff mit Nuklearwaffen mag Major nicht recht glauben. Zwar müsse man Putins Drohungen ernst nehmen, jedoch habe Russland andere Kriegsmittel in Petto: Raketen, Chemiewaffen und Cyberattacken. Jetzt sei es wichtig, die Ukraine weiter zu unterstützen – politisch, wirtschaftlich und militärisch, so Claudia Major.
(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 12. Oktober 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de