Migranten in Ventimiglia Am Ende schaffen es fast alle über die Grenze
15.10.2023, 16:07 Uhr Artikel anhören
Migranten in Ventimiglia warten auf ein Abendessen.
(Foto: Andrea Affaticati)
Für die Migranten ist die italienische Küstenstadt Ventimiglia an der Grenze zu Frankreich die letzte Hürde, um sich weiter Richtung Norden fortzubewegen. In der kleinen Stadt haben sich die Einwohner an die Migranten gewöhnt - manche helfen ihnen sogar. Vielleicht auch, weil sie wissen, dass diese weiter nach Norden wollen.
8 Uhr morgens am vergangenen Freitag: Ein junges Paar, dunkle Hautfarbe, verstörter Blick, tritt aus dem Bahnhof der ligurischen Küstenstadt Ventimiglia, der letzten Haltestelle vor der französischen Grenze. Sicher haben auch sie vor, nach Frankreich zu fahren, und wer weiß, von dort aus nach Deutschland oder bis hinauf in die skandinavischen Länder. Im Moment sehen sie aber zu müde aus. Außerdem ist es schon zu spät, wie Filippo Lombardo, Rentner, 69 Jahre alt, schlohweißes, langes Haare und Bart ntv.de sagt. "Um sein Glück zu versuchen, muss man es mit den ersten Zügen so um 6 Uhr versuchen."
Filippo kennt sich aus, seit über zehn Jahren hilft er den Migranten, vor allem den Frauen. Es gibt zwar einen Bus, der von der Grenze hinunter in die Stadt fährt, wenn die Migranten aber kein Geld haben, müssen sie die sieben Kilometer zu Fuß gehen. Wenn er also Frauen sieht, fährt er sie mit dem Auto. "Vor allem für die Schwangeren ist die Strecke anstrengend."
An der Grenze nimmt die italienische Polizei, jene in Gewahrsam, die von der französischen Gendarmerie zurückgeschickt wurden. Sie kontrolliert, ob sie registriert sind und ob es vielleicht Anzeigen gegen sie gibt. Sind sie nicht registriert, bekommen sie eine schriftliche Anweisung, sich in den nächsten 7 bis 15 Tagen beim Polizeipräsidium in Ventimiglia zu melden. Dass das nur Show ist, wissen beide Seiten.
Nur 30 Betreuungsplätze
Es ist ein ruhiger Tag. Um 12.30 Uhr zählen die "Refusée", die Abgewiesenen, erst 44 Köpfe. Normalerweise sind es um diese Uhrzeit doppelt so viele. "An manchen Tagen haben wir bis zu 400 Migranten hier", erklärt Bürgermeister Flavio Di Muro ntv.de. Für eine Stadt mit 24.000 Einwohnern, die vornehmlich vom Tourismus lebt, ist das ein Problem. "Im Moment verfügen wir über ein Betreuungszentrum mit 30 Plätzen für Frauen mit Kindern und für besonders Hilfebedürftige. Eine weitere Betreuungsstelle soll demnächst in einem ehemaligen Hotel eingerichtet werden", sagt Di Mauro.
Der Bürgermeister ist Parteimitglied der rechtsnationalen Lega, weswegen er auch das unlängst von der Regierung verabschiedete Dekret begrüßt, das in jeder Region ein Abschiebelager vorsieht. Darin sollen Migranten ohne Recht auf Asyl oder humanitären Schutz bis zu 18 Monaten festgehalten werden können, wenn sie ihr Ursprungsland nicht zurücknimmt. Auch außerhalb von Ventimiglia soll eines errichtet werden. Innenminister Piantedosi war unlängst zu Gast um darüber zu sprechen.
Der Großteil der Migranten, die dieses Jahr nach Italien gekommen sind, hat es über die Mittelmeeroute geschafft und ist auf der Insel Lampedusa gelandet. Die Fahrt von dort in den Norden kann mehrere Wochen dauern. "Das heißt, die vielen Gestrandeten aus Lampedusa, könnten in den nächsten Tagen in Ventimiglia ankommen", bemerkt der Bürgermeister besorgt.
Die Verabredung mit Jacopo Colomba, Zuständiger der Hilfsorganisation WeWorld in der Stadt, findet bei der Caritas statt. Jacopo ist um die 30 Jahre alt und kommt aus Ventimiglia. Auch er bestätigt, dass die Anwesenheit der Migranten für Spannungen in der Bevölkerung sorgt. Spannungen die man mit mehr Aufnahmeplätzen aber vermeiden könnte, denn hier will keiner bleiben.
Im Übergang
Eine Wendung, die Jacopo immer wieder verwendet ist "in transito". "Das hier ist eine besonders lebhafte Grenze", erklärt er. "Die Franzosen haben zwar die Grenzkontrollen verschärft, die Migranten scheint das aber nicht abzuschrecken und der Transit bleibt rege."
Die einen schaffen den Grenzübergang beim ersten Mal, andere versuchen es immer und immer wieder. Am Ende gelingt es so gut wie allen, nach Frankreich zu gelangen. Nicht zuletzt, weil die französisch-italienische Grenze 515 Kilometer misst und über drei Regionen läuft. Die einen versuchen es mit dem Zug, andere gehen über Bergpfade, oder entlang der Schienen. Versuchen es hier oder in einer anderen Grenzregion.
Es ist niederschmetternd, den Migranten vor dem Bahnhof oder unter der Autobahnbrücke in die Augen zu blicken. Es ist, wie Giulia Barberi sagt: "Warum geht's mir gut und diesen Menschen stattdessen so elendig?"
Giulia ist Ärztin, hat bis vor kurzem für die Organisationen Ärzte der Welt gearbeitet und ist jetzt für Organisation, Duschen, Kleiderverteilung und andere Dienstleistungen der Caritas zuständig. Die Caritas ist die erste Anlaufstelle für die Migranten.
Hier bekommen sie ein Frühstück, das tatsächlich eine komplette Mahlzeit mit Pasta, Fleisch, Gemüse und Obst ist. Hier bekommen sie bürokratische und juristische Hilfe und werden verarztet, wenn sie mit wunden Füßen oder anderen Beschwerden und Krankheiten ankommen.
Wächter statt Duschen
Giulia klagt vor allem über die mangelnden Hygieneeinrichtungen. Es gebe zwar eine Hilfsorganisation, die mit mobilen Duschen herumfährt, trotzdem sei der Großteil der Migranten gezwungen, sich im Fluss Roja oder im Meer zu waschen. Im Winter geht das natürlich nicht. "Doch anstatt mehr mobile Einrichtungen dieser Art zur Verfügung zu stellen, zahlt die Gemeinde zwei Wächter, damit die Migranten nicht in den Friedhof gehen, und dort am Brunnen trinken oder gar das Gesicht waschen", bemerkt Jacopo.
Der Versuch, mit den Migranten zu sprechen, führt zu nichts. Auch Abdul, der als Kultur- und Sprachmediator bei der Caritas arbeitet, ist ausgesprochen einsilbig. Das Einzige, was er erzählt ist, dass er selber vor sieben Jahren aus Burkina Faso gekommen ist, und dass der Großteil der jetzigen Migranten aus Sudan, Nigeria, Elfenbeinküste und Äthiopien kommt und meistens nur arabisch spricht.
Am Morgen ist der Treffpunkt der Bahnhof, wobei das Wort Treffpunkt eine Absicht voraussetzt, die es nicht gibt. Zumindest nicht offiziell. Filippo erzählt von einem Mann aus Mali, der selber als Migrant in Ventimiglia strandete und im Laufe der Jahre ein Netz aufgebaut hat, das von Lampedusa, über Rom bis nach Ventimiglia reicht. "Viele die hier sitzen, sind nicht auf der Durchreise, sondern arbeiten für ihn", erklärt Filippo. Damit er sie irgendwann an die Grenze führt. 500 Euro koste das. Insgesamt kostet die Fahrt nach Europa zwischen 10.000 und 12.000 Euro.
Am Abend treffen sich die Neuangekommenen, beziehungsweise jene, die es noch nicht nach Frankreich geschafft haben, auf dem Parkplatz vor dem Friedhof ein, wo sich italienische und französische Hilfsorganisationen mit der Aussteilung des Abendessens ablösen. Fast schon brav warten diese Männer auf das Essen, das sie schließlich auf dem Asphalt sitzend verspeisen. Wenig später begeben sie sich wieder unter die Brücke, um zwischen Ratten und Müll schlafen zu gehen.
Quelle: ntv.de