Politik

Nahost-Experte aus Ramallah Der Schritt der Hamas bedeutet "volle Konfrontation"

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Eine Rakete aus dem Gaza-Streifen landet im Westjordanland, in der israelischen Siedlung Beitar Ilit.

Eine Rakete aus dem Gaza-Streifen landet im Westjordanland, in der israelischen Siedlung Beitar Ilit.

(Foto: REUTERS)

Das Westjordanland steht unter Spannung, aber noch gibt es nur vereinzelt Zusammenstöße. Warum besonders die Jugend empfänglich für die Gewalt der Hamas ist, erklärt Steven Höfner, Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Ramallah.

ntv.de: Die Hamas hat die Palästinenser im Westjordanland gezielt dazu aufgerufen, auch gewalttätig zu werden. Wie ist die Situation bei Ihnen in Ramallah?

Steven Höfner: Hier in Ramallah ist die Lage noch ruhig, wir können uns hier frei bewegen. Man spürt aber die Anspannung in der Luft. Gestern gab es einen Generalstreik, Geschäfte waren geschlossen, viele Menschen sind zu Hause geblieben. Wir haben uns aus Ramallah seit den Angriffen vom Samstag nicht mehr wegbewegt, weil wir nicht wissen, ob es irgendwo mobile Checkpoints gibt oder ob man irgendwo festhängen könnte. Deswegen können wir nur aus Berichten, also bruchstückhaft zusammensetzen, was im Rest des Westjordanlands passiert. Es gibt an den Checkpoints immer wieder Zusammenstöße, es gibt vereinzelte Angriffe von radikalen Gruppen, aber insgesamt ist die Lage noch ruhig im Vergleich zum Gazastreifen.

Also keine koordinierten Aktionen?

Das nicht, aber wir gehen davon aus, dass es in den nächsten Tagen und Wochen vermehrt auch zu Anschlägen kommen kann, weil die Hamas sich entschieden hat, in die volle Konfrontation zu gehen. In den letzten zwei Jahren war die Hamas so wahrzunehmen, dass sie keine volle Konfrontation will, sondern nur ein bisschen zündeln im Westjordanland. Der Schritt, den sie am Samstag gewählt hat, der bedeutet volle Konfrontation mit Israel, mit allen Konsequenzen. Und das bedeutet auch, dass ihre Anhänger im Westjordanland sicherlich noch weiter mobilisiert werden.

Anhänger im Westjordanland - kann man da eine Größenordnung schätzen?

Wie viel Unterstützung die Hamas eigentlich wirklich hat, ist schwierig zu fassen, es gab ja seit 2006 keine Wahlen auf nationaler Ebene. Wir führen aber alle drei Monate Umfragen durch und sehen da seit einigen Jahren, dass es ein stabil hohes Niveau an Zustimmung für die Hamas gibt. Mit Schwankungen kommt sie im Westjordanland und im Gazastreifen auf etwa ein Drittel der Bevölkerung, die sie unterstützen. Etwas niedriger liegt die Fatah, also die Partei von Präsident Abbas. Weitere 30 Prozent der Menschen etwa können mit beiden Bewegungen nichts anfangen. Die Zustimmung für die Hamas ist also groß, aber sie kommt nicht aus der Mehrheit.

Was macht die Hamas in den Augen dieses Drittels attraktiv?

Die palästinensische Bevölkerung ist sehr jung, 70 Prozent sind jünger als 35 Jahre. Das heißt, Sie sind nicht mit den Erfahrungen der Intifadas sozialisiert, sie wissen vor allem nicht, was es bedeutet, wenn Gewalt eingesetzt wird. Dann bezahlen die Palästinenser am Ende einen sehr hohen Preis.

Und den können die Jungen noch nicht ermessen?

Sie sind in einer relativen Friedenszeit aufgewachsen. Was sie mitbekommen haben, ist die Regentschaft von Präsident Abbas, der innenpolitisch autoritär regiert, Opposition unterdrückt, keine Presse- und Meinungsfreiheit zulässt und auch keinen Generationswechsel in der Politik ermöglicht. Die Jugend stellt die Mehrheit der Bevölkerung, hat aber kein Mitspracherecht, was sehr frustriert.

Für den Machterhalt arbeitet Abbas auch mit den israelischen Behörden zusammen. Wie wird das wahrgenommen?

Das System Abbas kooperiert mit israelischen Sicherheitskräften, um zum Beispiel Oppositionelle, aber auch Hamas-Anhänger oder andere potenziell gefährliche politische Akteure festzunehmen. Das geschieht in der Regel über einen Geheimdienst-Austausch und führt dazu, dass die palästinensische Jugend die eigenen Sicherheitskräfte gar nicht mehr als Schutzmacht wahrnimmt, sondern als einen Akteur, der mit Israel zusammenarbeitet und so die Besatzung aufrechterhält. Auf die Jugend wirkt diese Situation völlig aussichtslos. Sie führt in eine Art Depression.

So verfängt das Terror-Modell der Hamas bei den radikalisierten Jugendlichen?

Zur Politik von Abbas, der Gewaltfreiheit und Kooperation verfolgt, aber zugleich die Bevölkerung unterdrückt, wirkt das, was die Hamas macht, wie ein populistisches Gegenmodell. Die Jugend erhofft sich davon, dass sich überhaupt etwas ändert. In welche Richtung, ist gar nicht abzusehen. Sie sind einfach nur aufgeregt, dass jetzt etwas passiert. Das sehen wir bei den Unterstützungs-Bekundungen der letzten Tage in den palästinensischen Städten. Dort bricht sich etwas Bahn, was die letzten Jahre vielleicht paralysiert war, apathisch war, und was jetzt sichtbar wird.

Wie präsent ist das israelische Militär bei diesen Kundgebungen?

Aktuell ist sehr viel Militär im Westjordanland. Sobald man aus den Städten herausfährt, ist das allgegenwärtig. Analysten, die sich die Verschiebung der internen israelischen Militäreinheiten angeschaut haben, stellten in der Vergangenheit einen deutlichen Abzug von Einheiten vom Gazastreifen in das Westjordanland fest. Denn die Wahrnehmung der letzten Monate war, dass hier sehr viel passiert. In dem Zusammentreffen von Siedlern und Palästinensern liegt ein enormes Konfliktpotenzial. Und gerade zu den jüdischen Feiertagen, die ihren Abschluss am Wochenende gefunden haben, wurden noch einmal mehr Truppen in das Westjordanland verlegt, um Feierlichkeiten oder Siedler und Siedlungen zu beschützen. Diese Truppen haben wahrscheinlich genau in diesem Moment am Gazastreifen gefehlt.

Mit Steven Höfner sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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