Politik

Riskanter Bau-Boom vor Erdbeben Diese Verantwortung kann Erdogan nicht abschütteln

Erdogan beim Treffen mit Überlebenden des Bebens in Sanliurfa.

Erdogan beim Treffen mit Überlebenden des Bebens in Sanliurfa.

(Foto: picture alliance / AA)

Das Erdbeben in der Türkei hat zehntausende Menschen getötet. Präsident Erdogan wird es schwer haben, die Verantwortung für das Ausmaß der Katastrophe von sich zu weisen. Seine Regierung und Partei haben nicht nur Warnungen ignoriert, sondern einen Bau-Boom losgetreten - und sich daran bereichert.

Sie hatten seit Jahren schon gewarnt, immer und immer wieder. Doch die Entscheidungsträger ignorierten ihre Expertise einfach: Das Erdbeben im Südosten der Türkei und im Norden Syriens sei vorhersehbar gewesen, kritisiert Hüseyin Alan, der Vorsitzende der türkischen Kammer für Ingenieurgeologie, nach dem Beben - wieder einmal. Schon mehrfach hatte er gesagt, dass die in der Türkei nun vom Erdbeben betroffenen Städte mit detaillierten Berichten gewarnt worden seien, einschließlich dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und allen relevanten politischen Entscheidungsträgern. Nie habe er eine Antwort erhalten. Im Fall der Stadt Kahramanmaraş, dem Epizentrum, hätte der Bürgermeister gar weitere Studien zur Erdbebensicherheit abgelehnt, sagte der Wissenschaftler. Er habe diese schlicht nicht als erforderlich angesehen.

Die Städte seien zur Pacht und Plünderung einer bestimmten Lobby überlassen worden, klagt Alan. Ohne dass er die Lobbyisten namentlich nennt, ist klar: Er meint die Baulobby, die eng mit der AKP-Regierung verwoben ist. Noch ist das ganze Ausmaß des Unglücks nicht zu überblicken, doch unstrittig ist, dass die Katastrophe die Türkei nicht überraschend heimgesucht hat. Mehrere tektonische Verwerfungslinien verlaufen durch das Land und insbesondere die 16-Millionen-Metropole Istanbul gilt wegen ihrer geografischen Lage als besonders gefährdet. Dort stoßen die anatolische und die eurasische Erdplatte aufeinander. Und wie eigentlich überall im Land ignoriert Ankara diese Gefahr.

Giga-Projekt am Bospurus

Nur ein Beispiel: Im Juni 2021 startete trotz beträchtlichen Widerstands von Opposition und Umweltschützern in Istanbul der Bau des zweiten Bosporuskanals. Dieser künstliche Seeweg ist ein Prestigeprojekt von Staatschef Erdoğan. Mit dem Kanal soll der Bosporus vom internationalen Schiffsverkehr entlastet werden. Zudem sollen entlang seinen Ufern Siedlungen mit Luxuswohnungen entstehen. Bei einem Erdbeben, warnen Seismologen, könne der künstliche Kanal Evakuierungen und logistische Unterstützung noch weiter erschweren.

Wissenschaftler des Geomar-Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in Kiel haben in Istanbul derart starke tektonische Spannungen festgestellt, die ausreichen, um ein Beben der Stärke 7,1 bis 7,4 auszulösen. Sollte dies geschehen, dürfte es ähnliche Folgen haben wie beim Beben vom 17. August 1999, dessen Epizentrum in Gölcük südöstlich von Istanbul lag. Mehr als 18.000 Menschen starben damals. Seitdem wird den Istanbulern geraten, Wasservorräte unter den Betten zu lagern, Kinder sollen Trillerpfeifen bei sich tragen, um im Fall einer Verschüttung auf sich aufmerksam machen zu können.

Noch immer steigende Nachfrage

Trotz der Warnungen wird das Problem von der AKP aber auch von der größten Oppositionspartei, der CHP, fahrlässig behandelt. So kritisierte der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu (CHP) 2019 in seinem Wahlkampf die von der AKP geführte Stadtverwaltung dafür, keine Erdbebenvorbereitungen zu treffen. Zu seinen Wahlversprechen gehörte, die Neubauten in der Stadt erdbebensicherer zu machen. Doch weil laut Medienberichten das Budget für Erdbebensicherheit auf Druck der AKP sogar gekürzt wurde, ist bisher wenig geschehen. Selbst ohne Beben stürzen immer wieder Häuser ein, weil bei deren übereilter Errichtung offenbar nicht einmal Mindeststandards beachtet wurden.

War der Wohnungsmarkt in den Städten schon seit Jahren überdreht, hat sich diese Situation seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs vor einem Jahr noch weiter zugespitzt. Denn seit 2018 gilt: Wer mit dem Erwerb einer Immobilie im Wert von mehreren Hunderttausend Euro in der Türkei investiert, bekommt den türkischen Pass dazu. Diese Strategie soll ausländisches Geld ins Land locken. Der rote Pass mit dem Halbmond erleichtert die Einreise in den Schengen-Raum und ist daher bei Russen begehrt, deren Zugang nach Europa durch Sanktionen beschränkt ist. Für das Passinvestment wird mit riesigen Plakaten am Istanbuler Flughafen oder in Edelhotels wie im Hilton in Istanbul geworben. Wurden zuvor besonders Käufer aus dem arabischen Raum angesprochen, werben solche Anzeigen nun auf Russisch.

Hunderttausende Tote: "kein Scherz"

Die zusätzliche Nachfrage hat zur Folge, dass insbesondere in Istanbul noch die letzten Lücken zügig zugebaut werden. Erst im Dezember warnte der renommierte Geologe Naci Görür in einem Fernsehinterview mit CNN Türk, dass in Istanbul mit einem Beben mit einer Mindeststärke von 7,2 gerechnet werde. Das Risiko, dass hunderttausende Menschen dann ums Leben kommen würden, sei hoch. "Das ist kein Scherz", sagte Görür. Er forderte die Behörden auf, so schnell wie möglich dringende Maßnahmen zu ergreifen.

Die jetzige Katastrophe dürfte maßgeblich die bevorstehenden Parlaments- und Präsidialwahlen beeinflussen. Denn das Beben erschüttert die Türkei inmitten der schlimmsten Wirtschaftskrise, seit Erdoğan und seine AKP im Jahre 2002 an die Macht kamen. Laut Meinungsumfragen, die noch vor dem Beben veröffentlicht wurden, muss er sich auf seine bisher wohl härteste Wahlschlacht einstellen. Deswegen hatte der 68-Jährige vergangenen Monat den Wunsch geäußert, die Doppelwahlen vom 18. Juni auf den 14. Mai vorzuverlegen. Ein Schachzug, der die Opposition in Bedrängnis brachte, denn die relevanten Oppositionsparteien haben bisher weder Kandidaten für das Präsidial- noch für das Ministerialamt aufgestellt. Doch angesichts der verheerenden Ausmaße des Erdbebens wackelt offenbar auch der Termin für die Abstimmungen. Erdoğan wird viele Fragen beantworten müssen, warum diese Katastrophe mit Ansage solch ein Ausmaß annehmen konnte.

Was ist etwa mit der Erdbebensteuer geschehen, die seit dem Beben von 1999 erhoben wird? Laut Opposition wurden diese Gelder zweckentfremdet, anstatt sie in die Gebäudesicherung zu investieren.
Warum kamen die türkischen Rettungsteams teils verspätet in den Katastrophengebieten an? Nutzer sozialer Medien und die wenigen regierungskritischen Medien berichten, türkische Retter seien teils erst nach Tagen eingetroffen. Metin Ergun, Abgeordneter der oppositionellen nationalistischen İyi Parti, beschrieb Szenen aus der besonders schwer vom Beben betroffenen Region Hatay, an der Grenze zu Syrien. "Hatay ist eine Geisterstadt geworden. Überall ist alles zerstört. Es gibt keinen Strom. Die Rettungsteams sind völlig unzureichend", twitterte Ergun.

Mahner im Gefängnis

Wer hat eigentlich die Baulobby kontrolliert, deren Branche sich unter Erdoğan zur größten Industrie entwickelte, und die sich Hand in Hand mit der AKP an den hohen Renditen bereicherte? Klar ist, es waren sehr viele Bauten aus der Erdoğan-Zeit, die nun zusammenfielen.

Und warum wurden all die Wissenschaftler nicht gehört, die immer und immer wieder vor den Beben warnten? Tayfun Kahraman, Leiter des Amtes für Erdbebenrisiko und Stadtentwicklung, etwa hatte in einem Bericht gewarnt, dass bei einem starken Beben in Istanbul bis zu 500.000 Gebäude beschädigt werden könnten. Nachdem er seinen Bericht auch der Regierung vorgelegt hatte, wurde er im April 2022 zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt. Er soll die Gezi-Proteste unterstützt haben.

Noch ist Erdoğan ungewohnt ruhig für seine Verhältnisse - anders als nach dem Putschversuch 2016, den er zu seinen Gunsten instrumentalisieren konnte. Vielleicht ahnt er, dass das Beben das Ende seiner zwanzigjährigen Herrschaft eingeläutet hat. Oder er arbeitet an einer Strategie, wie er die Wahlen doch noch gewinnen könnte.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen