Politik

Über 100.000 Menschen trauern in Oslo Geheimdienst hatte Hinweis auf Breivik

Überwältigende Anteilnahme: Weit über 100.000 Menschen haben sich in Oslo versammelt.

Überwältigende Anteilnahme: Weit über 100.000 Menschen haben sich in Oslo versammelt.

(Foto: AP)

Der norwegische Geheimdienst wusste seit März von auffälligen Aktionen des Osloer Attentäters Breivik. Wegen des Kaufs von Chemikalien in Polen befand er sich auf einer entsprechenden Liste. Der Attentäter ist bei seiner Anhörung vor dem Haftrichter geständig, plädiert aber auf "nicht schuldig". Am Abend kommen Zehntausende zur Trauer um die 76 Opfer zusammen.

Norwegens Geheimdienst PST wusste von ungewöhnlichen Aktivitäten des Attentäters von Oslo. Der Nachrichtendienst war bereits im März auf Anders Behring Breivik wegen eines Chemikalienkaufs aufmerksam geworden. Das bestätigte Geheimdienstchefin Janne Kristiansen im TV-Sender NRK. Breivik habe bei einem polnischen Händler für Chemikalien eine Summe von 120 Kronen (15 Euro) eingezahlt und sei deshalb auf entsprechenden Listen mit 50 bis 60 Namen aufgetaucht. Die Firma stehe unter Beobachtung, Breiviks Einkauf sei aber zu unbedeutend gewesen, um weiter verfolgt zu werden. "Wir hatten absolut nichts gegen Behring Breivik in der Hand, er lebte ein unglaublich gesetzestreues Leben", sagte Kristiansen.

Einzeltäter oder Teil eines Netzwerks? Beides scheint bei Breivik derzeit noch möglich.

Einzeltäter oder Teil eines Netzwerks? Beides scheint bei Breivik derzeit noch möglich.

(Foto: dpa)

Die polnische Polizei hat wegen der Verbindung bereits einen Mann vernommen. Es gebe aber keine Festnahme oder Anklage. Das staatliche Fernsehen berichtete, es handele sich um den Besitzer eines Internet-Versandhauses für Chemikalien. Wie die polnischen Sicherheitsbehörden mitteilten, handelte es sich um legale Substanzen. Ein Sprecher von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström forderte in Brüssel eine Verschärfung der Bestimmungen zum Handel mit solchen Substanzen.

"Zwei weitere Zellen"

Richter Kim Heger informierte über die Vernehmung des Attentäters und seine Haftbedingungen.

Richter Kim Heger informierte über die Vernehmung des Attentäters und seine Haftbedingungen.

(Foto: REUTERS)

Der norwegische Attentäter Breivik hat nach eigener Aussage mit anderen Rechtsextremen zusammengearbeitet. Der Attentäter habe von einer Organisation gesprochen, in der es "zwei weitere Zellen" gebe, sagte Untersuchungsrichter Kim Heger nach einer knapp einstündigen Anhörung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. So sollte verhindert werden, dass Breivik wie angestrebt die Anhörung als öffentliches Forum zur Erläuterung seiner Beweggründe nutzt. Richter Heger stoppte laut Zeugen Breiviks Aussagen, als dieser begann, aus seinem 1500 Seiten umfassenden "Manifest" vorzulesen.

Der Attentäter hatte sich laut seinem Anwalt "gewünscht", dass die Anhörung öffentlich stattfinde und er eine Uniform tragen dürfe, was das Gericht ebenfalls ablehnte. Der 32-Jährige gestand laut Heger bei seiner Anhörung zwar den Doppelanschlag im Zentrum Oslos und in einem Ferienlager, erklärte sich aber juristisch für "nicht schuldig". Er habe Norwegen und Westeuropa retten wollen, sagte der 32-Jährige.

Opferzahl nach unten korrigiert

Der Schmerz sitzt tief: Trauernde am Abend in Oslo.

Der Schmerz sitzt tief: Trauernde am Abend in Oslo.

(Foto: dpa)

Die Polizei erklärte, sie könne "nicht völlig ausschließen", dass noch andere Menschen an dem Massaker vom Freitag beteiligt gewesen seien. Britischen Medienberichten zufolge kooperierte Breivik mit einer ultra-rechten Gruppierung in Großbritannien. Laut "Daily Telegraph" nennt der Attentäter in seiner im Internet verbreiteten Hassschrift Verbindungen nach England. Breivik will sich demnach bereits im Jahr 2002 einer Gruppe britischer Rechtsextremisten angeschlossen haben, die sich dem Kampf gegen "Multikulturismus" verschrieben haben. Den Name der Gruppe, deren Mitglied er sein wollte, nannte er nicht.

Ein Land trauert: Nach der mittäglichen Gedenkminute zeigen sich die Menschen auch am Abend solidarisch im Gedenken.

Ein Land trauert: Nach der mittäglichen Gedenkminute zeigen sich die Menschen auch am Abend solidarisch im Gedenken.

(Foto: dpa)

Derweil korrigierte die norwegische Polizei die Zahl der Opfer von 93 auf 76 herunter. Auf der Insel Utöya seien nicht 86, sondern 68 Menschen getötet worden. Bei dem Bombenanschlag im 45 Kilometer entfernten Zentrum der norwegischen Hauptstadt Oslo seien dagegen acht und nicht sieben Menschen umgekommen. Grund für die zunächst falsch genannten Zahlen sei die schwierige Informationsbeschaffung vor Ort gewesen. Das gelte vor allem für die Suche nach Toten, Vermissten und Überlebenden auf der kleinen Insel und im Tyrifjord. Auf der Insel westlich von Oslo wird weiter nach Vermissten gesucht. Deshalb könnten sich die Zahlen noch ändern.

Ob Breivik tatsächlich einer ominösen Organisation angehört, war nicht klar, auch wenn er über eine Neubelebung des Templerordens geschrieben hat, der im Zeitalter der Kreuzzüge entstand. Der Richter ordnete nach der Anhörung vorerst eine achtwöchige Untersuchungshaft an, die mit einer vierwöchigen Isolationshaft beginnt, in der Breivik keine Briefe und Zeitungen erhalten und lediglich von seinem Anwalt besucht werden darf.

Für immer wegsperren?

"Das Ziel des Attentats war, ein kräftiges Signal zu geben an das Volk", zitierte der Richter Breivik. Der Beschuldigte habe mit dem Bombenanschlag vor dem Büro von Ministerpräsident Jens Stoltenberg und den kaltblütigen Morden in einem Ferienlager der regierenden Arbeiterpartei die größtmöglichen Verluste zufügen wollen. Die Partei deformiere die norwegische Kultur und importiere massenweise Muslime, habe Breivik gesagt. Sie habe Volk und Land verraten und müsse dafür büßen. "Die Motive des Beschuldigten erachtet das Gericht nicht weiter als erörterungswürdig", schloss der Richter seine Ausführungen.

Die Königsfamilie und Premier Stoltenberg nach dem Eintrag ins Kondolenzbuch in der Aula der Osloer Universität.

Die Königsfamilie und Premier Stoltenberg nach dem Eintrag ins Kondolenzbuch in der Aula der Osloer Universität.

(Foto: AP)

Der Attentäter machte laut Ermittlern beim Hafttermin "einen ruhigen und unberührten Eindruck". Breivik werde rechtspsychiatrisch auf seine Zurechnungsfähigkeit untersucht, wie Polizeiankläger Christian Hatlo ankündigte. Obwohl Norwegen zu den weltweit rund 20 Staaten gehört, die eine lebenslange Haftstrafe abgeschafft haben, kann der Attentäter bei einer Verurteilung dennoch für immer hinter Gittern bleiben. Denn schon beim Urteilsspruch kann ein Gericht die sogenannte Verwahrung ("forvaring") verhängen, deren Ende ungewiss ist. Als psychisch kranker Straftäter käme er in eine geschlossene Fachklinik.

Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich zahlreiche Menschen versammelt. Wütend schlugen Passanten auf die Scheiben eines Wagens ein, in dem sie Breivik vermuteten und schrien "verdammter Verräter" und "Mörder". Nach der Anhörung wurde dieser in einem Polizeijeep davon gefahren. Breivik, der seine Tat minuziös und monatelang vorbereitet hatte, war unrasiert, hatte kurz geschnittenes blondes Haar und trug ein rotes Oberteil.

Gedenken in Norwegen

Gemeinsam gedenken: Norwegen sucht den Zusammenhalt.

Gemeinsam gedenken: Norwegen sucht den Zusammenhalt.

(Foto: REUTERS)

In Norwegen hatte zuvor das öffentliche Leben im ganzen Land stillgestanden. Vom Oslo-Fjord bis zum Nordkap schlossen sich Menschen am Mittag einer Schweigeminute für die Opfer an. Seit dem Abend verwandeln zudem in der Osloer Innenstadt hunderttausende Trauernde einen Platz in einen Blumenteppich in Gedenken an die zumeist jugendlichen Opfer. Kronprinz Haakon rief dabei zweimal aus: "Heute sind unsere Straßen mit Liebe gefüllt."

"Verschiedenheit als Chance": Die liberale Gesellschaft soll erhalten bleiben.

"Verschiedenheit als Chance": Die liberale Gesellschaft soll erhalten bleiben.

(Foto: REUTERS)

Der Thronfolger sagte, man könne die Anschläge vom 22. Juli mit vielen Toten nicht ungeschehen machen. "Aber wir können selbst wählen, was sie mit uns machen." Er forderte seine Landsleute auf, sich aktiv für ein Norwegen einzusetzen, in dem "Verschiedenheit als Chance begriffen wird". Ministerpräsident Jens Stoltenberg sagte vor der riesigen Menschenmenge: "Norwegen wird diese Prüfung bestehen. Das Böse kann Menschen töten, aber niemals ein ganzes Volk besiegen." Die Antwort der Menschen auf die Anschläge müsse aus "mehr Offenheit, mehr Demokratie, mehr Bestimmtheit" bestehen. In Erinnerung an den Überfall auf Norwegen durch das nationalsozialistische Deutschland 1940 sagte er: "Unsere Väter haben versprochen: Nie wieder ein 9. April. Wir versprechen: Nie wieder ein 22. Juli."

Vater unter Polizeischutz

Unterdessen steht der Vater des Attentäters im südfranzösischen Cournanel vorsorglich unter Polizeischutz. Das Anwesen des Mannes werde von der Gendarmerie bewacht, sagte Staatsanwalt Antoine Leroy. Ziel sei es, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. "Es gab keinerlei Hausdurchsuchung", betonte Leroy. Entsprechende Gerüchte seien falsch. Der Wohnort von Jens Breivik rund 100 Autokilometer nordwestlich von Perpignan wird von zahlreichen Journalisten belagert. Unklar ist, ob er sich weiter in seinem Haus in Südfrankreich aufhielt. Seine Lebensgefährtin erklärte Medienvertretern, er sei nach Spanien gereist.

Stark zerstört wurde am Freitag auch das Regierungsgebäude in Oslo.

Stark zerstört wurde am Freitag auch das Regierungsgebäude in Oslo.

(Foto: dpa)

Jens Breivik hatte sich kurz nach der Geburt seines Sohnes von seiner ersten Frau scheiden lassen. Er hat nach eigenen Worten seit mehr als 15 Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn. Sie hätten nie zusammengewohnt; die Eltern hätten sich schon 1980 getrennt. Als Junge sei Breivik verschlossen, aber nicht politisch interessiert gewesen. Der Fernsehsender NRK zitierte aus einer E-Mail, in der der Vater schreibt: "Ich fühle große Trauer und Entsetzen über das, was geschehen ist. Ich komme über den Schock der wahnsinnigen Taten von Anders nicht hinweg, mit dem ich seit 1995 keinen Kontakt mehr hatte. Für mich ist unbegreiflich, dass so etwas geschehen konnte."

Der von den Behörden als "christlicher Fundamentalist" eingestufte Breivik richtete auf der Insel der sozialistischen Jugend nahe Oslo ein grauenhaftes Blutbad unter den jungen Menschen an. "Jeder lief um sein Leben und hat versucht, wegzuschwimmen", sagte Camp-Organisator Adrian Pracon, der das Blutbad mit einer Schussverletzung überlebte. "Es sah aus, als habe er Spaß", sagte der 18-jährige Augenzeuge Magnus Stenseth.

Stiefbruder von Mette-Marit unter Opfern

Unter den Trauernden: Kronprinzessin Mette-Marit und Prinzessin Märtha Louise.

Unter den Trauernden: Kronprinzessin Mette-Marit und Prinzessin Märtha Louise.

(Foto: dpa)

Offenbar wollte der Attentäter dabei auch die frühere Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland ermorden. Die Osloer Zeitung "Aftenposten" berichtete unter Berufung auf Polizeikreise, dass der 32-Jährige dies bei Verhören angegeben habe. Breivik hatte sie in seinem Internet-"Manifest" als "Landesmörderin" bezeichnet. Zu den Opfern des Massakers gehört auch ein Stiefbruder der norwegischen Prinzessin Mette-Marit. Trond Berntsen sei eines der Opfer, die auf der Insel Utøya erschossen worden seien, sagte eine Palastsprecherin und bestätigte damit entsprechende Presseberichte. Der 51-Jährige hatte laut Medienberichten versucht, den Angreifer festzunehmen, nachdem er vorher seinen eigenen Sohn in Sicherheit gebracht hatte.

Vor dem Massaker hatte der 32-jährige Norweger im etwa 40 Kilometer entfernten Oslo mit einer selbst gebauten Autobombe Teile der Innenstadt in eine Trümmerlandschaft verwandelt. Mindestens sieben Menschen wurden durch die Wucht der Explosion und Trümmer getötet. Das Büro von Ministerpräsident Stoltenberg wurde völlig verwüstet. Möglicherweise sollte die Explosion die Polizei ablenken.

Quelle: ntv.de, tis/mli/dpa/rts/AFP

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