Gaddafi von der Bildfläche verschwunden Libyen bombardiert Demonstranten
21.02.2011, 22:08 Uhr
Mit Mobiltelefonen werden Fotos aufgenommen und im Internet verbreitet. Hier steht eine Polizeistation in Tripolis in Flammen.
(Foto: Reuters)
Das libysche Militär setzt Kampfjets gegen demonstrierende Regimegegner ein. Augenzeugen berichten aus der Hauptstadt Tripolis von einem "Massaker mit vielen Toten". Zwei Kampfpiloten widersetzen sich dem Schießbefehl und desertieren nach Malta. Seit Beginn der Proteste sollen mindestens 400 Menschen ums Leben gekommen sein. Ausländer aller Nationalitäten versuchen, dem Inferno zu entkommen. Gaddafi selbst soll nach Angaben aus London sein Land bereits verlassen haben.

Gaddafi sitzt im Glashaus. Wenn er geht, fällt wahrscheinlich auch die gesamte Familien-Dynastie zusammen.
(Foto: AP)
Das Regime des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi geht mit äußerster Härte gegen Oppositionelle vor. Vor allem in der Hauptstadt Tripolis liefern sich Sicherheitskräfte schwere Kämpfe mit Aufständischen. Bewohner der Stadt sagten dem arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira, die Armee habe auch Kampfflugzeuge gegen unbewaffnete Demonstranten eingesetzt. Ausländer aller Nationalitäten versuchten, dem Inferno zu entkommen.
Mehrere Staaten schickten Evakuierungsflugzeuge nach Tripolis. Ein Beamter des ägyptischen Außenministeriums erklärte, alleine auf dem Landweg hätten rund 4000 Ägypter das Land verlassen. Mehrere Ägypter seien dabei in Libyen erschossen worden. Die ägyptische Armee teilte mit, die Grenze zu Libyen sei für jeden, der aus Libyen fliehen wolle, geöffnet. Gaddafi soll nach unbestätigten Berichten auf dem Weg nach Venezuela sein. Die zweitgrößte Stadt Bengasi, die Wiege der Proteste, im Osten Libyens fiel an die Gaddafi-Gegner. Teile der Armee liefen angeblich über. Nach Schätzungen sollen bislang an den fünf Protesttagen insgesamt 400 Menschen ums Leben gekommen sein.
Bomben auf Demonstranten
Unterdessen sind zwei libysche Kampfflugzeuge auf Malta gelandet. Die Piloten stellten nach Angaben der maltesischen Armee Antrag auf politisches Asyl. Beide Militärflugzeuge seien unerlaubt auf dem Internationalen Flughafen von Malta (MIA) gelandet. Die Piloten ergaben sich den maltesischen Behörden. Medienberichten zufolge hätten die beiden Oberste der libyschen Luftwaffenbasis Okba Ibn Nafa in Bengasi protestierende Demonstranten bombardieren sollen. Offenbar haben sich aber nicht alle Kampfpiloten der Anweisung widersetzt. Laut Al-Dschasira wurde ein Demonstrantionszug in Tripolis von Militärflugzeugen beschossen. Augenzeugen berichteten, Kampfjets hätten viele Orte in der Stadt bombardiert. Es habe sich um ein "Massaker mit vielen Toten" gehandelt. Auch aus den Vororten wurde von tödlichen Auseinandersetzungen berichtet. "Was hier in Tadschura passiert ist, ist ein Massaker", sagte ein Einwohner, der anonym bleiben wollte. Ein Augenzeuge im Vorort Fachlum berichtete von Hubschraubern, die über dem Viertel kreisten und bewaffnete afrikanische Söldner herabließen. Es habe zahlreiche Tote gegeben.
Kurz vor der Landung der Kampfjets auf Malta hatten bereits zwei zivile Helikopter aus Tripolis mit sieben Menschen an Bord den kleinsten EU-Staat erreicht. Nach EU-Angaben bereitet sich Malta vor, als logistische Basis für ausreisende EU-Bürger zu fungieren.
Deutsche werden ausgeflogen
Deutsche Staatsbürger sind mit einer Lufthansa-Maschine vom libyschen Flughafen Tripolis ausgeflogen worden. Das Auswärtige Amt sei voll damit beschäftigt, die Menschen in Sicherheit zu bringen, sagte Außenamts-Staatsminister Werner Hoyer in Brüssel am Rande des EU-Außenministertreffens. "Wir sind voller Sorge für die deutschen Staatsbürger", sagte Hoyer. Zuvor hatte Außenminister Guido Westerwelle (FDP) in Berlin alle Bundesbürger aufgefordert, die sich noch in Libyen aufhalten, das Land zu verlassen.

Deutsche Staatsbürger nach ihrer Rückkehr aus Tripolis auf dem Flughafen von Frankfurt am Main.
(Foto: dpa)
Am Montagabend trafen die Deutschen auf dem Frankfurter Flughafen ein und berichteten von dramatischen Szenen in Tripolis: Gewehrfeuer, Brände, und leergefegte Geschäfte hätten das Stadtbild geprägt. "Ich hatte Angst wegen der Kinder", sagte Katja T. aus Berlin, die seit September an der französischen Schule in Tripolis gearbeitet hat. In den Straßen der Stadt, auch in der Nähe der Residenz des deutschen Botschafters, hätten Feuer gelodert.
Eine andere Frau, die seit dreieinhalb Jahren in Libyen gelebt hat, sagte: "Ich habe in Panik meine Sachen zusammengepackt." Mit den beiden Kindern machte sie sich auf den Weg zum Flughafen. Den Weg säumten ausgebrannte Fahrzeuge. Den Hausstand ließ sie in Tripolis zurück. In der Nacht sei praktisch permanent geschossen worden. Im Laufe des Tages sei die Lage immer chaotischer geworden.
Das Regime zerfällt
Gaddafi hielt sich weiter aus der Öffentlichkeit fern. Gerüchten zufolge soll der schrille Oberst das Land heimlich verlassen haben und auf dem Weg nach Venezuela sein. Gaddafi könnte Libyen bereits in Richtung der venezolanischen Hauptstadt Caracas verlassen haben, sagte der britische Außenminister William Hague am Rande des Treffens der EU-Außenminister in Brüssel. Ein Sprecher der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton sagte, er habe "keine Informationen" zu einer Ausreise des libyschen Machthabers. Zu diesem Zeitpunkt handele es sich "um unbestätigte Meldungen". Ein libyscher Regierungsvertreter dementierte die Nachricht. Gaddafi sei ebenso wie alle Regierungsvertreter noch im Land.
Saif al-Islam Gaddafi, einer der Söhne des Staatschefs, sagte im staatlichen Fernsehen, man werde "Ermittlungen" zu den Unruhen einleiten. In der Nacht zuvor hatte der junge Gaddafi gedroht, das Land werde im Bürgerkrieg versinken, falls die Proteste nicht enden sollten.
Der libysche Justizminister Mustafa Abdul-Dschalil trat aus Protest gegen den "exzessiven Einsatz von Gewalt gegen unbewaffnete Demonstranten" zurück. Das berichtete die libysche Zeitung "Quryna". Weitere Funktionäre und Diplomaten in Libyen sollen ebenfalls ihren Rücktritt erklärt haben.
Die Unruhen im Land lassen auf den Weltmärkten die Ölpreise steigen. Das Land ist heute nach Angaben des Auswärtigen Amtes Deutschlands drittwichtigster Erdöllieferant. Auch in anderen arabischen Ländern blieb die Lage angespannt. In Marokko kamen fünf Menschen bei Ausschreitungen ums Leben.
Mehrere Volksstämme haben sich Medienberichten zufolge den Gaddafi-Gegnern angeschlossen. Der Religionsführer Aref Ali Najed verkündete, die großen Volksgruppen hätten sich gegen Gaddafi verbrüdert. "Alle großen Volksstämme Libyens sind vereint. Das einzige, was sie bislang trennte, war Gaddafi und sein Regime", sagte Najed vom einflussreichen Warfla-Stamm dem Sender BBC.
Aufständische erobern Städte
Das Parlament, der Allgemeine Volkskongress, sollte zusammenkommen und über Reformen beraten. Zahlreiche Polizeistationen der Hauptstadt standen in Flammen, wie ein Korrespondent von Al-Dschasira berichtete.

Särge mit getöteten Demonstranten. Auch diese Bilder sollen in Bengasi gemacht worden sein.
(Foto: AP)
Nach unbestätigten Meldungen sollen sich die Sicherheitskräfte aus mehreren Städten zurückgezogen haben. Die Aufständischen, die am vergangenen Mittwoch mit ihren Demonstrationen gegen die Staatsführung begonnen hatten, haben demnach einige Städte weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht. Im Osten hätten kriminelle Banden das Machtvakuum für Plünderungen ausgenutzt.
Auf Internetseiten der Oppositionellen hieß es, zwei Stämme planten, die Stadt Sebha in Zentrallibyen unter ihre Kontrolle zu bringen. Zuvor hatten Gerüchte die Runde gemacht, dass sich Gaddafi dorthin zurückgezogen haben soll.
Gaddafi bislang EU-Verbündeter
Die EU-Staaten sind sich bislang uneins in ihrer Libyen-Strategie. Gaddafi ist bisher ein Verbündeter der Europäer im Kampf gegen die illegale Einwanderung. Er hatte zuletzt gedroht, die Zusammenarbeit mit der EU bei der Unterbindung der illegalen Einwanderung aus Nordafrika aufzukündigen, sollte sich Europa bei den aktuellen Unruhen hinter die Demonstranten stellen.
Internationale Konzerne wie BP, Siemens und die BASF-Tochter Wintershall wollen wegen der Unruhen einen Teil ihrer Mitarbeiter aus Libyen abziehen. Westliche Firmen sind vor allem im libyschen Energiesektor sowie im Baugewerbe tätig. Etwa 500 Deutsche leben in dem nordafrikanischen Land, darunter auch viele mit doppelter Staatsbürgerschaft.
Berlin spricht Reisewarnung aus
Das Auswärtige Amt sprach eine Reisewarnung für das gesamte nordafrikanische Land aus. Außenminister Guido Westerwelle forderte in Berlin alle Bundesbürger, die sich noch in Libyen aufhalten, auf, das Land zu verlassen. Zugleich verurteilte er das gewaltsame Vorgehen gegen die Gaddafi-Gegner aufs Schärfste. "Nichts und niemand rechtfertigt, das friedliche Demonstrationen mit Gewalt, Mord und Totschlag niedergeknüppelt werden", sagte Westerwelle.
Mit Blick auf die Rede des Gaddafi-Sohnes Saif al-Islam, der mit Bürgerkrieg im Land gedroht hatte, sagte Westerwelle: "Wer in einer solchen Lage sein Volk einschüchtern will, indem er in Libyen mit Bürgerkrieg droht, der zeigt nur, dass er am Ende ist."
Quelle: ntv.de, ppo/AFP/dpa/rts