Vom Putin-Ersatz zum Pöbler "Medwedew will zeigen, dass er käuflich ist"
26.04.2023, 10:15 Uhr Artikel anhören
Hat sich "hergegeben, um eine Marionette zu spielen": Ex-Präsident Dmitri Medwedew
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew schlägt verbal ziemlich um sich: Russland werde Raketen aufs Kanzleramt abfeuern, falls in Deutschland der internationale Haftbefehl gegen Staatschef Wladimir Putin vollstreckt würde. Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki ist laut Medwedew ein "Dummkopf", und das Land will er von der Landkarte tilgen. Den deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius bezeichnet Medwedew auf Twitter als "Kraut" und schreibt, der Deutsche, "der Russland angreifen will, muss für unsere Parade in Berlin bereit sein". Macht Medwedew den Kreml-Kampfhund? Fragen an Russland-Expertin Juliane Fürst.
ntv.de: Ist Medwedew so stark, wie seine Sprüche nahelegen, oder fühlt er sich nur so? Oder fühlt er sich nicht mal so und tut nur so, als ob?
Juliane Fürst: Medwedew war schon immer schwach. Er ist in diese schwache Position hinein gezeichnet worden, indem er für die Wahlen 2008 als Präsident auserkoren wurde und mithilfe von Putins Partei Einiges Russland gewonnen hat. Die große Hoffnung innerhalb und außerhalb Russlands war dennoch, dass er jemand sein könnte, der eigene Ziele hat, Ansprüche erhebt und seine eigene Politik ausarbeitet. Er sprach Englisch, war aufgeschlossen für Technologie und machte ein bisschen mehr Geräusche in Richtung Westen.
Auf einem USA-Besuch hat er mit dem damaligen Präsidenten Barack Obama Burger gegessen.
Seine Offenheit ließ viele hoffen, dass Medwedew ein Reformer sein könnte. Diese Hoffnung zertrümmerte sich aber spätestens, als klar wurde, dass er ohne Klagen und ohne Widerrede zur Seite trat, als Putin erklärte, er werde nach den vier Jahren Unterbrechung wieder antreten. Putin hat damals die Verfassung ausgereizt, nach der man nur für zwei Amtsperioden regieren darf. Sie sagte aber nicht, dass man nur zwei Amtsperioden insgesamt in seinem Leben innehaben sollte. Viele der liberaleren Intellektuellen empfanden diese Ausreizung aber doch als eine Art von Verfassungsbruch. Und tatsächlich hat Putin seine repressive Politik seit 2012 nochmal stark verschärft.

Die Historikerin Juliane Fürst leitet die Abteilung "Kommunismus und Gesellschaft’" am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Dann war es gar nicht von Anfang an so gedacht, dass Medwedew nur für vier Jahre die Lücke füllt?
Das war nicht klar, und es wurde auf jeden Fall nicht so kommuniziert. Es gab die Hoffnung, dass er für eine zweite Amtsperiode antreten würde - potenziell auch in einem internen Machtkampf gegen Putin. Der hatte damals schon acht Jahre Macht hinter sich. Das ist viel für ein großes Land mit einem Präsidialsystem, das ohnehin sehr auf den Präsidenten zugeschnitten ist. Ich nehme an, dass Putin von Anfang an den Plan hatte, Medwedew als Platzhalter zu benutzen, aber richtig klar wurde das erst mit der Ankündigung vor den Wahlen 2011, dass er wieder als Kandidat für seine Partei antreten würde. Das löste die letzte große Protestwelle in Russland aus. Die letzte auch, bei der es überhaupt noch eine Chance gab, dass von der Straße her irgendeine Veränderung hätte erzwungen werden können.
An den Demonstrationen sollen damals Zehntausende teilgenommen haben, die "Russland ohne Putin" riefen. Woran scheiterten sie?
Das Problem war auch damals schon, dass die Proteste sich auf die urbanen Zentren beschränkten, Putins Wählerschaft aber zum großen Teil auf dem Land sitzt. Von dort wurden massenweise Leute nach Moskau gekarrt, um Gegenproteste zu organisieren – zum Teil auch dafür bezahlt. Außerdem sind Zehntausende von Demonstranten zwar viel, aber nicht genug, um sich gegen eine gewaltbereite Polizei zu wehren. Zur Verstärkung wurden sogar Truppenteile der regulären Armee bereitgestellt. Ich war damals selbst dort und erinnere mich daran, dass die ganze Tverskaia, die Hauptstraße Moskaus, voller Lastwagen mit Soldaten war, um Putins Inauguration zu schützen. Man hatte Angst, dass es an diesem Abend noch mal zu großen Demonstrationen kommen könnte – aber das Rückgrat der Proteste war damals schon gebrochen.
Und Medwedew verschwand einfach aus dem Machtzentrum?
Ab dem Moment, als Medwedew für Putin zur Seite trat, war klar, dass er sich hergegeben hatte, um eine Marionette zu spielen. Das hätte ein Sergej Lawrow wahrscheinlich nicht getan, denn der hatte einen Ruf zu verlieren als Außenpolitiker. Medwedew war im Grunde genommen nach seiner Präsidialzeit gar nichts mehr, obwohl er erstmal noch das Amt des Premierminister innehatte.
Für "gar nichts" ist er jetzt relativ laut.
Interessanter als das, was Medwedew sagt, ist, wie er es sagt. Inhaltlich sagt er genau das, was Lawrow als Außenminister etwas eleganter, wenn auch nicht weniger radikal und abscheulich formuliert. Aber wie er es sagt - diese unglaublich unflätige Art, gerade in den englischen Tweets, fällt auf. Mit diesen Beleidigungen ist er auf einer Linie mit Leuten wie Wladimir Solowjow und Margarita Simonjan, den Putin-Propagandisten im Fernsehen.
Also mit Leuten, die öffentlich darüber reden, wie Russland einen Atomkrieg in Europa für sich entscheiden könnte, den wirklichen "Kampfhunden" des Kreml.
Er übernimmt da, glaube ich, noch eine etwas andere Rolle, und da gibt es zwei Möglichkeiten. Ich will aber betonen, dass alle diese Vermutungen, was wer im Kreml tut oder denkt, reine Spekulationen sind. Man weiß einfach sehr wenig. Zurück zu Medwedews Rolle: Entweder wurde ihm die Rolle des überzogenen Kommentators zugeschrieben und er denkt, sie zu übernehmen sei nötig, um seine Loyalität zu beweisen. Oder - das wäre die andere Interpretation - er ist schwer alkoholabhängig und hat den Faden verloren. Diese Theorie wird vielfach von ukrainischen Twitterern geteilt, die oft schreiben, "Dima, hör mal auf zu trinken. Wodka und Twitter gehen nicht gut zusammen."
Die Rechtschreibung könnte dann auch unter Wodkakonsum leiden?
Einigen von Medwedews englischen Tweets sieht man in der Tat an, dass sie nicht Korrektur gelesen wurden. Neulich hat er darüber philosophiert, warum die Ukraine unnötig ist. Dieser Post war bezogen auf die Grammatik so schlecht, dass man vermuten muss, dass er ihn ohne jede Absprache versandt hat. Da frage ich mich schon, ob noch etwas anderes im Spiel ist, eine Destruktion der Persönlichkeit, jenseits der politischen Machtspiele. Schließlich war auch Maria Sacharowa, die Sprecherin von Außenminister Lawrow, schon mehrmals vor Kameras offensichtlich betrunken. Das ist Medwedew, soweit ich weiß, noch nicht passiert. Auch Simonjan hat ein Alkoholproblem.
Er wäre also nicht der einzige.
Nein, aber ich denke schon, dass Medwedew auch versucht, sich so zu positionieren - nicht unbedingt nur als Hardliner, sondern auch als jemand, der käuflich ist. Sodass, falls im Kreml die Macht wechselt, alle wissen: Auf Medwedew kann man zählen, der sagt, was man von ihm erwartet. Er selbst hat wirklich überhaupt keine reale Machtposition zur Verfügung. Er kommandiert keine staatliche Armee wie Schoigu, er hat keine Privatarmee wie Prigoschin, er hat kein Außenministerium, und er ist auch noch unbeliebt beim Volk. Medwedew hat schon seit Langem die schlechtesten Umfragewerte von allen nennenswerten russischen Politikern. Praktisch seit 2011, seit seinem Machtverzicht, ist er nicht mehr wirklich als eigenständiger Akteur wahrgenommen worden.
Die Menschen haben ihm also übel genommen, dass er nicht bereit war, um seine Macht zu kämpfen?
Eine gewisse Klasse – das urbane Bildungsbürgertum in Russland - hat ihm das Übel genommen, anderen ist es egal gewesen. Aber sein Ranking war auch vor dem Krieg schon niedrig, und seine Tweets haben da nicht geholfen. Er gilt in Russland so ein bisschen als Witzfigur. Ich kenne jedenfalls keinen Politologen, der Medwedew wahnsinnig ernst nimmt, schon gar nicht als Player in den Kreml-Machtspielen.
Sie nannten auch die Option, dass er sich als käuflich positionieren will. Das würde aber bedeuten, dass er auf keinen Fall die Position 1 anstreben könnte, also Putins Stuhl, oder? Denn wer käuflich ist, muss ja jemanden über sich haben, der ihn gekauft hat.
Ja, das ist ja das Interessante an Medwedew: Auf der einen Seite hat er keine Macht. Auf der anderen Seite könnte er aber einer der legitimen Nachfolger sein, eben weil er bereits Präsident war. Er ist Vizechef des Sicherheitsrats, und man sieht ihn auf vielen Bildern neben Putin. Wenn der Kreml Putin loswerden wollte und eine Figur bräuchte, die Legitimität ausstrahlt, dann wäre Medwedew ein Kandidat. Das könnte ihn aber auch gefährlich machen. Er wandelt also auf einem schmalen Grat. Er kann mit diesen feindseligen, unflätigen Tweets zeigen: Ich bin für eventuelle Putin-Nachfolger nicht gefährlich.
Dann wird er - trotz der Position als scheinbar legitimer Nachfolger - derzeit wohl nicht als einer gehandelt, der nach Putin die Macht übernehmen könnte?
Eher nicht. Aber das alles ist viel Kaffeesatzlesen mit etwas historischem Hintergrund. De facto weiß man es nicht.
Aus der deutschen Perspektive taugt Medwedew für viele offenbar gut als Schreckgespenst. Man argumentiert, wir sollten Putin nicht in den Abgrund rauschen lassen, denn derjenige nach ihm könnte noch schlimmer sein.
Schlimmer für Russland - ja. Das könnte tatsächlich noch schlimmer werden, denn die Liberalen sind alle im Gefängnis. Es ist niemand zu sehen, der das Land besser behandeln würde, als es Putin jetzt tut. Schlimmer für die Ukraine und den Westen - nein. Das ist aus meiner Sicht eine falsche Argumentation. Rein von der Logik der russischen Macht her gesehen wäre ein kontroverser Machtwechsel im Kreml in jedem Fall gut für die Ukrainer.
Das lässt sich so klar sagen?
Ein Machtwechsel von Putin auf einen Nachfolger würde kontrovers verlaufen, da bin ich mir ziemlich sicher, denn es gibt keinerlei Anzeichen, dass er von sich aus zur Seite tritt. Ein Nachfolger würde in einer prekären Position starten - womöglich gegen Putins Willen, der über 20 Jahre lang an der Macht war. Den Leuten das zu verkaufen, ist schon mal sehr schwierig. Wer auch immer nach Putin kommt, wird die offene Kriegsführung in der Ukraine beenden wollen, die ja das Potenzial einer Niederlage in sich trägt. Er - eine 'sie' ist unwahrscheinlich - wird sich darauf konzentrieren, erstmal die Macht im eigenen Land zu festigen.
In Deutschland befürchten manche von einem Putin-Nachfolger noch aggressivere Eroberungspläne.
Eine offene Front, ein Krieg, dessen Verlauf ja nicht vorhersehbar ist, der nicht gut für Russland läuft - das kann sich niemand leisten, der gerade versucht, im Land die Macht zu konsolidieren. Meiner Meinung nach wird jeder, der sozusagen neu an die Macht in Russland kommt, erstmal diese Front zumindest einfrieren. Denn jemand, der versucht, sich in Moskau zu etablieren, während die Front in der Ukraine zusammenbricht, der weiß, das ist sein sofortiges Ende. An diesem Krieg ist, nach meiner Einschätzung, tatsächlich nur Putin wirklich interessiert.
Mit Juliane Fürst sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de