Entgleitet uns die Situation? Vorpreschen hat das Vertrauen erschüttert
08.05.2020, 18:27 Uhr
Katrin Göring-Eckardt ist Fraktionschefin der Grünen im Bundestag.
(Foto: picture alliance/dpa)
In einer sensiblen Phase der Pandemie gebe es einen regelrechten Überbietungswettbewerb der Ministerpräsidenten, kritisiert die Grünen-Fraktionschefin Göring-Eckardt. Zudem habe die Krisenpolitik eine gefährliche Schieflage bekommen.
In der Bekämpfung der Corona-Epidemie hat unsere Gesellschaft zusammengehalten. Mit gelebter Solidarität und viel Rücksicht und dem Einhalten von nachvollziehbaren Regeln haben wir bei der Eindämmung des Virus Fortschritte gemacht. Die Infektionsrate, die wochenlang zum Taktgeber für unser Leben wurde, konnte durch gemeinsame Anstrengung und Entbehrungen so weit abgesenkt werden, dass eine explosive Ausbreitung, die unser Gesundheitssystem zum Kollaps hätte bringen können, verhindert wurde. Und trotzdem: Über 7000 Menschen - Eltern und Großeltern, Familienangehörige und Freunde - haben durch Corona bisher ihr Leben verloren.
Das mahnt uns auch beim Schritt in eine neue Phase vorsichtig voranzuschreiten. Wir befinden uns keineswegs am Ende der Krise sondern am Anfang einer Phase des Lebens mit Corona - einer neuen Normalität, während der wir mit der beständigen Bedrohung des Virus auskommen müssen.
Mir geht es wie vielen, ich sehne mich danach, Freundinnen zu treffen und die Enkelkinder, mit Nachbarinnen nicht nur über den Zaun reden zu können und ein Fest zu feiern. Noch viel drastischer ist es natürlich für die vielen Selbstständigen und Unternehmen, die verständlicherweise darauf dringen, dass das Geschäft wieder läuft, weil die finanziellen Nöte immer größer werden. Maßgeblich muss aber auch auf dieser neuen Wegstrecke der Kompass sein, der uns bisher gut durch die Krise gebracht hat: Umsicht, Orientierung an den Fakten, Empathie und echter Zusammenhalt.
Bundesliga statt Schulen und Kitas
Das unkoordinierte Vorpreschen mehrerer Ministerpräsidenten in den letzten Tagen hat mein Vertrauen, dass diese Richtschnur noch gilt, beschädigt. Handlungsleitend scheint mir derzeit eher der Profilierungswettbewerb zwischen einigen Landesfürsten zu sein, die nicht einmal die gemeinsamen Telefonschalten abwarten wollten, bevor sie eigene Pläne vorgestellt haben. Der Druck, den sie dadurch wechselseitig aufbauen und die Erwartungen die sie schüren, macht Fehler immer wahrscheinlicher. Wenn das Ergebnis schon feststeht, werden die Argumente eben passend gemacht.
Ich habe die Sorge, dass uns die Situation entgleitet. Wenn sich die Krisenpolitik nicht komplett von den Prinzipien der Solidarität und Rücksicht verabschieden will, dann braucht es bei der Umsetzung des sehr weiten Lockerungskorridors ein Zurück zu einer verantwortlichen, umsichtigen Linie und für alle nachvollziehbaren Kriterien. Wir müssen bei einem schrittweisen und an Fakten orientierten Vorgehen bleiben. Das setzt ausreichend Tests voraus. Das setzt auch gut ausgestattete Gesundheitsämter voraus. Und fragen muss man sich ja auch, wo denn die App bleibt, mit der die notwendige Nachverfolgung praktisch erst möglich wird.
Außerdem hat die Krisenpolitik eine andere Schieflage bekommen. Statt finanzstarker Einzelinteressen wie der Bundesliga hätte ich von der Bundesregierung und den Ländern erwartet, dass sie auch denen mehr Gehör schenkt, die bislang keine starke Lobby haben. Wo sind die Aktionspläne für mehr Sicherheit für Risikogruppen, der Krisengipfel für die Schulen und Kitas oder Maßnahmen, die Familien und Frauen besser vor der beruflichen und privaten Doppelbelastung und einem Rollback in alte Rollenmuster schützt. Wo ist die pragmatische Unterstützung für Kunst und Kultur, auch wenn die nicht im Dax vertreten sind. Wenn in dieser Krise nur die Starken überleben, wird unsere Welt nach Corona eine gänzlich andere sein, eine in der das Leben definitiv ärmer ist und der Zusammenhalt massiv gefährdet.
Für die nächsten Wochen und Monate gilt: Wir müssen wachsam bleiben. Wir sind keineswegs über den Berg. Die Botschaft lautet weiterhin: Bleibt vorsichtig und lernt, mit der Gefahr umsichtig und verantwortungsvoll umzugehen und zeigt Solidarität. Die Regierenden in Bund und Ländern und auch zunehmend in den Kommunen und Kreisen müssen diese Botschaft stetig und glaubhaft weitertragen. Sie tragen eine immense Verantwortung. Und besonders Bürgermeisterinnen und Landräte sind jetzt gefragt. Die Gefahr, dass unlauterer Wettbewerb und Schuldzuweisungen bei ihnen landen, weil sie am nächsten dran sind, ist groß.
Katrin Göring-Eckardt ist Fraktionsvorsitzende im Bundestag von Bündnis90/Die Grünen.
Dieser Text ist Teil einer Serie von Gastbeiträgen aus den Fraktionen zur aktuellen politischen Lage in der Corona-Krise.
Quelle: ntv.de