"Am Rande des Abgrunds" Wie der Syrien-Krieg den Libanon bedroht
15.05.2013, 14:48 Uhr
"Zu deiner Verfügung, o Assad": Ein Plakat huldigt in Tripoli dem syrischen Staatschef.
(Foto: AP)
Je länger der syrische Bürgerkrieg wütet, desto mehr wächst die Angst: Wird der Konflikt zum Flächenbrand für die ganze Region? Schon jetzt ist der Libanon ein Pulverfass - mit dem Zuzug hunderttausender syrischer Flüchtlinge droht ihm das Schlimmste.
Es gibt Nächte, da kann Etienne Labande kaum mehr schlafen. Da liegt er wach und grübelt. Grübelt darüber nach, wie er nur die Millionen Dollar beschaffen kann, die er in den nächsten Wochen braucht. Und was er tut, falls er das Geld nicht auftreibt.
Labande ist Nothilfekoordinator des Welternährungsprogramms (WFP) für den Libanon, und seine Aufgabe ist gigantisch: Hunderttausende syrische Flüchtlinge muss der Franzose mit Nahrungsmitteln versorgen. 420.000 Syrer haben sich allein in den vergangenen zwei Jahren in den Libanon geflüchtet, und der Flüchtlingsstrom reißt nicht ab: Tag für Tag fliehen 3000 weitere Menschen über die Grenze. Bis Ende des Jahres erwartet der Libanon eine Million syrische Flüchtlinge im Libanon – fast ein ein Viertel der gesamten Bevölkerung.
"Es kann so nicht ewig weitergehen", fürchtet Labande. "Die Spannungen im Land werden immer größer." Bei vielen Libanesen heiße es plötzlich: Die Flüchtlinge stehlen unsere Jobs, sie vergehen sich an unseren Mädchen. Wie immer in Krisenzeiten würden nun die Ausländer für alles Schlechte verantwortlich gemacht. Schon gehen in Tripoli libanesische Demonstranten gegen die syrischen Flüchtlinge auf die Straße.
Flüchtlinge in Zelten und Garagen
Durch den Syrien-Krieg befinden sich Millionen Menschen auf der Flucht. Rund 1,1 Millionen flüchteten sich in die Nachbarländer. Die meisten von ihnen leben in Jordanien und im Libanon - schätzungsweise je 420.000. Bis Ende 2013 erwarten die Anrainerstaaten etwa 3,5 Millionen Flüchtlinge.
Dabei hießen die meisten Libanesen die ersten syrischen Flüchtlinge im Jahr 2011 durchaus willkommen. Syrer kamen oft privat unter, bei Freunden oder Verwandten. Viele Libanesen erinnerten sich noch an den Krieg 2006, als sie selbst in Syrien Zuflucht fanden.
Doch auch die beste Gastfreundschaft ist irgendwann strapaziert, besonders wenn die Gäste immer zahlreicher werden. Inzwischen müssen viele Syrer sehen, wie sie zurechtkommen. Sie hausen in Zelten, sommers wie winters, in Garagen, Rohbauten, Verschlägen ohne Wasser und Heizung – teils zu horrenden Preisen. Ein Zimmer kostet in Tripoli mal 300, mal 500 Dollar im Monat, und die Mieten steigen kontinuierlich. Helfer berichten von "schockierenden Zuständen". Manche Flüchtlinge schlafen in Schichten, da die Unterkünfte so überfüllt sind.
Die Ersparnisse der Flüchtlinge sind meist schon aufgebraucht, viele verschulden sich. Um irgendwie über die Runden zu kommen, nehmen sie jeden Job an, der sich bietet. Für wenige Dollar am Tag, ohne sicher sein zu können, am Ende ausgezahlt zu werden. Ein Schwarzarbeiter kann schlecht seinen Lohn einklagen.
Wer registriert ist, erhält immerhin Nahrung umsonst. Das WFP vergibt Lebensmittelgutscheine im Wert von 27 Dollar, die in bestimmten Läden für Essen eingetauscht werden können – für viele die Rettung. "Ohne die UN würden wir das nicht überleben", sagt eine Frau aus Idlib, die nun mit ihren drei Kindern und ihrem Mann in einer wilden Siedlungen bei Tripoli wohnt. Ihre Baracke ist unverputzt, die Kabel liegen offen, eine Plastikplane verhüllt von innen das Wellblechdach. Ihr Mann arbeitet als Fliesenleger, fast alles Geld geht für die Miete drauf. In Syrien sei das Leben billiger gewesen, meint die 27-Jährige. Besser natürlich sowieso – zumindest bevor die Bomben fielen. Nun richtet sie sich notdürftig im kargen Provisorium ein und wird vor allem von einer Angst geplagt: "Dass wir nie wieder nach Syrien zurückkehren können."
"Die Flüchtlingskrise ist eine Bombe"
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Je länger der Krieg tobt, desto berechtigter scheint diese Angst. Und die Angst, dass der Krieg nicht an der Grenze haltmacht. In den Grenzregionen d es Libanon hört man schon seit Langem die Bombeneinschläge und Gefechte im Nachbarland. Doch inzwischen wird auch die verminte Grenze im Norden Tag für Tag bombardiert. Hier in den Bergen, deren Gipfel noch im Frühjahr schneeweiß leuchten, ist der Krieg beängstigend nah, ebenso im fruchtbaren Bekaa-Tal im Osten des Landes. Immer wieder ziehen sich syrische Aufständische in den dicht besiedelten Libanon zurück oder verlegen gar ihre Gefechte hierhin.
Für die Region ist der Krieg ein Katastrophe. "Politisch gesehen ist die Flüchtlingskrise für den Libanon eine Bombe", meint Bruno Rotival, der regionale Koordinator der EU-Nothilfe Echo. Nicht erst seit den Aufständen gegen den syrischen Herrscher Baschar al-Assad ist der Libanon politisch höchst instabil. Das Verhältnis der 18 Konfessionen untereinander ist angespannt, die Wunden des 15-jährigen Bürgerkriegs schmerzen noch immer. Schiiten und Sunniten tragen ihre Zwistigkeiten gerne mit Waffengewalt aus, die prosyrische Hisbollah und antisyrische Kräfte bekämpfen sich mit allen Mitteln des Terrors. Und doch gab es bislang eine Art fragiles Gleichgewicht. Durch den Zuzug hunderttausender Syrer, meist Sunniten und Assad-Gegner, droht dieses zu kippen.
Hinzu kommt, dass viele Regionen logistisch schlichtweg überfordert sind und unter der Wirtschaftskrise leiden. In manchen Gegenden fehlt es an Wasser, einige Gemeinden verhängen schon Ausgangssperren für die Flüchtlinge. Problematisch ist auch, dass diese oft in Gegenden wohnen, in denen die Einheimischen selbst bitterarm sind. Fast ein Drittel der Libanesen muss mit weniger als 4 Dollar am Tag auskommen "Wenn arme Libanese sehen, dass arme Syrer unterstützt werden, schürt das natürlich die Wut auf die Flüchtlinge", sagt Rotival. Seine Prognose ist düster: Wenn nicht bald etwas getan werde, kollabiere das Land: "Libanon steht am Rande des Abgrunds."
Rotival wie auch anderen internationalen Helfern ist bewusst: Letztlich hilft nur eine politische Lösung im Syrien-Krieg. Doch solange es die nicht gibt, braucht der Libanon – wie alle syrischen Anrainerstaaten - deutlich mehr Geld, wenn die große Katasstrophe umschifft werden soll. Doch an Geld fehlt es. Schon jetzt kommen die Flüchtlingsorganisationen kaum mit der Hilfe hinterher. Bald könne das WFP nur noch "den Ärmsten der Armen" mit Lebensmittelgutscheinen aushelfen, meint Labande. Auch wenn er jetzt Geld für die nächsten Monate auftreibt, werden ihn die Geldsorgen weiter plagen. Die schlaflosen Nächte vermutlich auch.
Quelle: ntv.de