Aufgebaut aus Trümmern Italienisches Künstlerdorf bangt um Existenz
19.04.2022, 08:51 Uhr (aktualisiert)
Das mittelalterliche Bussana Vecchia lag nach einem Erdbeben Ende des 19. Jahrhunderts in Trümmern.
(Foto: Andrea Affaticati)
1887 zerstört ein Erdbeben das ligurische Bussana Vecchia. In den 1960er-Jahren bauen Künstler und Hippies das Dorf mit eigenen finanziellen Mitteln wieder auf. Dann meldet plötzlich die Gemeinde Anspruch an - und verlangt hohe Rückerstattungen.
Das Künstlerdorf Bussana Vecchia liegt westlich von Genua über der Küstenstadt Sanremo, die einst wegen ihres Casinos internationales Renommee genoss. Von Sanremo aus geht es mit dem Auto oder dem Bus nach Bussana Nuova und von dort kann, wer will, das Dorf auch in 20 Minuten zu Fuß erreichen - und zwar über einen ehemaligen Eselspfad. Es ist ein Spaziergang, der sich auf jeden Fall lohnt. Denn je höher es geht, desto schöner wird die Aussicht auf die ligurische Landschaft und das Meer. Auch der erste Anblick des Dorfes - umgeben von einer großen Wiese, auf der Kinder spielen und ein Esel weidet - ist das bisschen Mühe wert.
1887 war das Dorf von einem verheerenden Erdbeben zerstört worden. Doch anstatt es wieder aufzubauen, wurde das neue Bussana unten an der Küste errichtet. Während man durch die Gassen des alten Bussanas spaziert, entdeckt man da und dort noch Spuren des Erdbebens. Wie verheerend das Ausmaß der Zerstörung gewesen sein muss, lässt sich ein wenig beim Anblick der Kirche Sant'Egidio ermessen. Sie ist noch immer ein leerer, dachloser Rumpf mit schönen Stuckaturen an den tragenden Wänden. Nur ein Eisengitter wurde irgendwann angebracht, weil es Versuche gab, die Engel zu stehlen.
Es waren der Keramiker Mario Giani, Künstlername Clizia, und der Maler Vanni Giuffrè, die Mitte der 1960er-Jahre die Idee hatten, das in Trümmer liegende alte Bussana in eine internationale Künstlerkolonie zu verwandeln. Die Häuser sollten anschließend Künstlern und Hippies - vor allem denjenigen, die den Ort wieder zum Leben erweckten - frei zur Verfügung gestellt werden.
Zehn Jahre nur Petroleumlampen
"Mein Mann Wolfgang Weiser, ein Wiener, hatte das Dorf Mitte der 60er-Jahre entdeckt", erzählt seine seit drei Jahren verwitwete Frau Jana Mazurowa ntv.de. Sie ist Tschechin, aber in Ingolstadt geboren und aufgewachsen. "Als ich 1968 mit Wolfgang herkam, war hier nichts als Schutt und Geröll." Auch ihr Haus, das sich im höher gelegenen Teil der Ortschaft befindet, lag in Trümmern.

Jana Mazurowa und ihr inzwischen verstorbener Mann Wolfgang Weiser gehörten 1968 zu den ersten Hippies, die nach Bussana Vecchia kamen und das Dorf wieder aufbauten.
(Foto: Andrea Affaticati)
Am Anfang war es eine Handvoll Hippies mit künstlerischer Veranlagung, die die Ärmel hochkrempelten und den Wiederaufbau aus eigener Tasche finanzierten. "Als Erstes begannen wir das Geröll wegzuräumen, das bis zu vier Meter hoch war", erzählt Mazurowa. "Es gab natürlich nichts, weder Strom noch Wasser. Den Zement haben wir gekauft und das Wasser vom Brunnen geholt." Erst 1978 wurde das Dorf ans Stromnetz angeschlossen. Bis dahin waren die Bewohner auf Petroleumlampen angewiesen. Die Steine, die so manche Gasse pflastern, wurden vom Strand geholt und eingeklopft.
Kunstateliers und ein Gespenst aus Gips
Heute zählt das Dorf im Winter an die 80 Einwohner. Im Sommer verdoppelt sich die Zahl. Zu Beginn waren es vor allem Ausländer - Hippies ("das waren wir", so Jana) und Künstler aus Deutschland, England und Frankreich. Heute wohnen hier mehr Italiener und die Zahl der Künstler ist deutlich zurückgegangen.
Nichtsdestotrotz bleibt die Kreativität treibende Kraft und Attraktion. In den Gassen gibt es Kunstateliers, hinter einem Bogendurchgang entdeckt man ein Gespenst aus Gips, bei dem man sich fragt, ob es vom Besuch abschrecken will oder ein origineller Willkommensgruß ist. Gegenüber der Kirche Sant'Egidio führt ein Pfad zu einem Bootsrumpf-ähnlichen Lokal. Ein Niederländer, Alter ungewiss, betreibt es und lädt den Besucher, den es bis zu ihm verschlagen hat, gerne auf ein Glas Wein ein. Die Veranda, von der aus man einen freien Blick auf das Meer hat, erinnert an eine Rumpelkammer mit Schätzen aus anderen Zeiten: da steht ein Schminktisch aus Omas Zeiten, dort eine hergerichtete Schaufensterpuppe und mittendrin Sofas, Truhen, Spiegel, alte Spitzengarnituren - wer weiß, von wo und aus welchen Leben zusammengetragen.
"Finanziert haben mein Mann und ich uns durch Ausstellungen und Kunstwerke. Er war zwar Chemiker, hatte früher im Chemiewerk in Seibersdorf bei Wien gearbeitet, war aber schon immer künstlerisch begabt", erzählt Mazurowa. Und so haben sie aus dem Trümmerhaufen ein Allzweckhaus, so könnte man es definieren, gezaubert, das aus Geschäft, Atelier, und Privaträumen besteht. Der Eingang ist unter einem Steinbogen, auf der Hauswand steht nur W+J.
Der Eingang führt in das Geschäft, in dem Mazurowas Schmuckkreationen ausgestellt sind. In den auf unterschiedlichen Ebenen eingerichteten Nischen stehen die Werke ihres Mannes. Dazu gehören Siebdrucke, einige davon regelrecht hypnotisierend, und seine berühmte Erfindung: Kerzen aus farbigen Wachskristallen. Rechts geht es weiter in die Privaträume, während eine Treppe zur Küche und den am Haus emporsteigenden Terrassen führt.
Droht Künstlerort das Aus?
Wer weiß, was aus dem Dorf geworden wäre, hätten sich vor 55 Jahren nicht wagemutige junge Künstler an die Arbeit gemacht. "Wir waren nicht die ersten. In den 50er-Jahren hatte eine Gruppe Süditaliener versucht, sich mehr schlecht als recht ein Schlafquartier einzurichten", erklärt Jana. "Sie arbeiteten in den Blumen-Treibhäusern." Diese gehören beziehungsweise gehörten einst zu den wichtigsten Erwerbsquellen von Sanremo. Damals waren die Süditaliener, die im Norden Arbeit suchten, aber nicht willkommen. Deswegen beschloss die Gemeinde, auch die noch nicht in Trümmer liegenden Häuser zu zerstören, um die Arbeiter zu vertreiben.
Die Tragik der Geschichte ist, dass dieses Schicksal jetzt auch dem Haus, das Mazurowa und ihr Mann gebaut haben, und anderen Gebäuden aus der "Gründerzeit" droht. Gegen Ende der 80er-Jahre meldete sich auf einmal die Gemeinde Sanremo, zu der Bussana Vecchia gehört, und forderte Rückerstattungen von denjenigen, die einst aus den Trümmern wieder bewohnbare Häuser gemacht hatten. Die Bauten seien Staatseigentum, hieß es. Zehn Jahre später, 1999, wurde das Dorf vom Kulturministerium zum "nicht verfügbaren Kulturgut" erklärt. Weitere Jahre verstrichen. 2017 landete dann auch im Postfach von Wolfgang Weiser und Jana Mazurowa ein Rückzahlungsbescheid in Höhe von 74.000 Euro.
Das Dorf wehrte sich, ging vor Gericht. Bei manchen wurde das Verfahren auf Eis gelegt. Warum in ihrem Fall nicht, kann Mazurowa nicht sagen. Den ersten Prozess hat sie verloren, jetzt bleiben noch Berufung und Revision. Das Skurrile an der ganzen Situation: Sollte sie den geforderten Betrag zahlen, hätte sie nur die Schulden getilgt. Das Haus, das sie und ihr Mann aus den Trümmern gebaut haben, müsste sie entweder kaufen oder mieten. Oder zurück in den ursprünglichen Zustand bringen, anders gesagt: zu einem Trümmerhaufen zerschlagen.
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 17. April 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de