
Im Extremfall wählen Incels die Gewalt, um ihre Verachtung für Frauen zu kanalisieren.
(Foto: imago/Ikon Images)
Sie nennen sich "Incels", unfreiwillig Enthaltsame - und sie verachten Frauen. Ihre Wut resultiert aus der Ablehnung durch das weibliche Geschlecht. Während die große Mehrheit dieser Männer in Foren ihre Gewaltfantasien teilt, machen einige wenige Ernst.
Aaron verachtet Frauen. Allein ihre Gegenwart macht ihn aggressiv. Kommt ihm eine Frau auf der Straße entgegen, wechselt er automatisch auf die andere Seite. Im Bus sucht er sich stets einen Einzelsitzplatz. Auf diese Weise kann er am leichtesten ausschließen, dass sich womöglich eine Frau neben ihn setzt. Gibt es keinen solchen Platz, steigt er wieder aus und wartet auf den nächsten Bus. Schon wenn sich eine Frau an der Supermarktkasse lediglich zu nah hinter ihn stellt, wird er "ziemlich ausfallend", wie er es nennt. Manchmal beschimpft Aaron sie dann als Drecksf***e oder Schlimmeres. Er sagt, dann könne er nicht anders. "Schon alleine der Gedanke an irgendwelche Intimität mit einer Frau widert mich an." Aaron ist ein Incel.
Die sogenannten "Involuntary Celibates", unfreiwillig Enthaltsamen, hassen Frauen. Sie fühlen sich als Opfer, weil ihnen weibliche Liebe, Intimität und Sex aus ihrer Sicht vorenthalten werden. Natürlich aus purer Bosheit der Frauen. In diversen Internetchats lassen sie ihrer Abneigung für "Stacys" (attraktive Frauen) und "Chads" (Männer, die bei Frauen ankommen) freien Lauf, sie zelebrieren ihren Hass und teilen ihre Gewaltfantasien mit Gleichgesinnten. Vergangenen November schloss das Onlineportal Reddit ein Forum mit 40.000 Mitgliedern, weil viele frauenfeindliche Einträge gegen die Nutzungsbedingungen verstießen. "Die Befürwortung von oder den Aufruf zu verbaler und körperlicher Gewalt gegen Individuen oder eine Gruppe" könne man nicht dulden, hieß es in einer Erklärung.
Seither verlagern sich die Incels auf andere Webangebote. Die Auswahl an zwielichtigen Foren ist groß genug. Nicht nur mit altbackenen Klischees über Frauen heizen die Männer darin ihre Hassorgie an - die angeblich typisch weibliche Geldgier ist da ein beliebter Aufhänger. Weit schlimmer ist, dass Gewalttaten gegen das andere Geschlecht teils verharmlost, teils heroisiert werden. Und dieser Gedankenmüll wabert frei einsehbar durchs Netz. Ohne Schranken. Ohne Sanktionen. Das Protokoll eines Dialogs:
Dead-inside99: "Vergewaltigung ist etwas Gutes. Beide Parteien profitieren davon. Der Vergewaltiger erfährt endlich das, was ihm Zeit seines Lebens verwehrt worden ist. Und die Schlampe aka. das Opfer lernt, was ihre ständige Ablehnung von unfreiwillig Enthaltsamen für Konsequenzen hat."
Evil Genius: "Ich verstehe nicht, wo das Problem ist, wenn eine degenerierte Schl***e, die in der gleichen Nacht sowieso zehn Schw***e gelutscht hätte, vergewaltigt wird. Das Ganze ist die Stigmatisierung nicht wert. Diese Gesellschaft ist so betrügerisch, und Huren werden auf ein Podest gestellt."
Letmego: "Durch Pornografie werden die Massen, was Vergewaltigung angeht, sowieso langsam desensibilisiert. Gib' dem Ganzen noch ein bisschen Zeit."
Solche Gedankenspiele als Hirngespinste einiger verschraubter Spinner abzutun, liegt nahe - kann aber gefährlich sein. Denn hin und wieder bleibt es nicht bei der bloßen Fantasie. Manchmal meint es einer Ernst. Todernst. Der 25-jährige Marc Lépine erschoss 1989 in der Polytechnischen Hochschule Montréal 14 Frauen, bevor er sich selbst das Leben nahm. Vor dem Massaker in einem der Seminarräume trennte er die weiblichen von den männlichen Studenten. Dann schickte er die Männer hinaus, forderte die Frauen auf, sich in einer Reihe aufzustellen - und schoss dann von links nach rechts auf eine nach der anderen. "Ich hasse Feministinnen", rief er während der Tat. Feministinnen hätten sein Leben ruiniert.
"Incels sind verhinderte Machos"
Nach Ansicht des Sozialpsychologen Rolf Pohl ist genau dies das Narrativ der Frauenhasser. "Incels sind verhinderte Machos", sagt er im Gespräch mit n-tv.de. "Sie trauern dem Ideal der Vorherrschaft des Mannes nach und wollen es wiederherstellen." Notfalls eben auch mit Gewalt. Als der 22-jährige Elliot Rodger im Mai 2014 ein Video auf Youtube online stellte, postulierte er darin gar den "Krieg gegen die Frauen". Nie habe er ein Mädchen geküsst, sagte er. Nie Sex gehabt. "Ich wollte Liebe, Zuneigung und Bewunderung. Aber wenn ich euch Mädchen nicht haben kann, werde ich euch vernichten. Es wird mir viel Spaß bereiten, euch abzuschlachten." Einen Tag später ermordete Rodger am Campus der University of California in Santa Barbara 6 Menschen und verletzte 13 weitere, bevor er sich selbst eine Kugel in den Kopf jagte. Von den Incels wurde er danach als Märtyrer gefeiert.
Auch der Attentäter von Toronto, Alek Minassian, würdigte Rodger in einem Facebook-Kommentar als "Größten Gentleman" und mahnte, die "Revolution der Incels" habe gerade erst begonnen. Und auch der 25-jährige Kanadier machte seine Drohung schließlich wahr. 10 Menschen starben und 15 weitere wurden verletzt, als Minassian am 23. April 2018 in der kanadischen Metropole einen Transporter auf den Gehweg der Yonge Street steuerte. Auch er suchte nach der Tat den eigenen Tod. Einem Polizisten rief er sogar zu, er solle ihn erschießen. Doch der Beamte bewahrte Ruhe. Ein Heldentod, wie ihn sich Minassian offenbar erträumt hat, blieb ihm verwehrt. Seit Anfang Mai läuft sein Prozess.
Dass sich sowohl Minassian als auch Rodger die Methoden radikaler Islamisten zu eigen gemacht haben, um ihren Krieg gegen das andere Geschlecht zu führen, ist nach Ansicht von Pohl kein Zufall. "Die Logik des Notwehrdenkens ist in beiden Ideologien ganz ähnlich", erklärt der Autor. "In beiden Fällen geht es ja um die Wiederherstellung einer geordneten Welt." Die Überzeugung, dass etwas in der Gesellschaft aus den Fugen geraten ist und dass es dafür einen klaren Schuldigen gibt, legitimiert aus Sicht der Attentäter die brutalste Gewalt. Auch im Falle der Incels wird deshalb der Feind entmenschlicht. Das beginnt schon bei der Sprache: Als "Femoide" oder "Feminazi" werden Frauen in den einschlägigen Foren beschimpft. "In der Geschichte haben wir oft genug erlebt, was passiert, wenn ganze Bevölkerungsgruppen zu niederen Tieren gemacht werden", erklärt Pohl. "Davon geht eine große Gefahr aus."
Die sexuelle Abhängigkeit des Mannes
Die Möglichkeiten des Internets wirken dabei wie ein Brandbeschleuniger. Der Einzelne merkt, dass er nicht allein ist mit seinem Hass. "Dieses Gemeinschaftsgefühl kann den Eindruck erwecken, als gäbe es eine nationale, wenn nicht sogar weltweite Bewegung", sagt der Sozialpsychologe. Gewalttäter können sich auf diese Weise als Kämpfer für die gemeinsame Sache gerieren. Und sich damit selbst überhöhen. Denn was Incels vor allem wollen, ist die eigene Schwäche kompensieren. Sexuelle Frustration, so Pohl, spiele dabei eine wichtige Rolle. "Nirgends ist der Mann schwächer und abhängiger als auf dem Feld der Sexualität", sagt er. "Deshalb ist die Sexualität auch der Kampfplatz. Gerade sexuelle Gewalt gegen Frauen ist eine Bestrafung der Frauen für das Begehren, das sie bei dem Mann auslösen."
Der Glaube, dass Frauenhass durch das Erstarken des Feminismus in der jüngsten Vergangenheit noch zugenommen habe, sei aber falsch. "Wer das glaubt, geht den Männerrechtlern auf den Leim", sagt Pohl. Denn die Frauen würden dadurch zu Täterinnen gemacht. Tatsächlich aber bestehe auch in westlichen Gesellschaften nach wie vor eine männliche Vorherrschaft. "Wir sind nicht so modern, wie wir glauben." Schon 1959 hat die Literaturwissenschaftlerin Katharine M. Rogers in einer breit angelegten Analyse westlicher Literatur nachgewiesen, dass sich jede Epoche ein weibliches Feindbild gesucht hat. Waren es in der Antike die Hure und im Mittelalter das zänkische Weib, galt im 19. Jahrhundert die "unweibliche Frau" als Prototyp allen femininen Übels. Heute, ergänzt Pohl, seien es Alleinerziehende und Karrierefrauen.
Doch während Rogers in ihrer Studie zu dem Ergebnis kam, dass ein gewisser Grad an Frauenfeindlichkeit in der Gesellschaft normal ist, erkennt Pohl den Ansatz einer Lösung für das Problem. "Wir müssen an die Grundlagen des Geschlechterverhältnisses ran", fordert der Experte. Solange das eigene Geschlecht höher bewertet werde als das andere, sei an Gleichheit nicht zu denken. "Wir müssen an den Punkt kommen, an dem wir die Differenzen wahrnehmen und anerkennen, ohne sie gleich mit einer Auf- oder Abwertung zu versehen." Der Hass auf Frauen, so die Logik, folgt stets dem Wunsch, sich ihnen überlegen zu fühlen. Und wie ginge das leichter, als ihnen Niedertracht und Berechnung zu unterstellen? Auch Aaron greift dankbar auf alte Klischees zurück: Die wahren Schl***en, erklärt er, seien diejenigen Frauen, die "Männer als Goldesel missbrauchen". Aus Erfahrung spricht er allerdings nicht. Aaron hatte noch nie eine Freundin.
Quelle: ntv.de