Leben

"Let's keep on punching!" Wladimir Klitschko über die gestohlenen Kinder der Ukraine

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In "Gestohlene Leben" erzählen Wladimir Klitschko und Tatjana Kiel von Schicksalen verschleppter Kinder in der Ukraine.

In "Gestohlene Leben" erzählen Wladimir Klitschko und Tatjana Kiel von Schicksalen verschleppter Kinder in der Ukraine.

(Foto: picture alliance / Flashpic)

In der Ukraine werden Kinder entführt, in Umerziehungslager gesteckt, über ihren Verbleib weiß man oft wenig. Heute erscheint ein Buch, das auf diesen Missstand aufmerksam macht. Herausgeber des Buches: Wladimir Klitschko. ntv.de hat mit ihm gesprochen und veröffentlicht einen Auszug aus dem Buch.

Wladimir Klitschko bringt es auf den Punkt: "Die freie Welt ist bedroht. Was glauben Sie denn, was Putin als Nächstes macht? Ruhe geben?" Klitschko ist emotional, er schaut herausfordernd in die Gesichter der anwesenden Journalisten: "Wir haben anscheinend nichts gelernt, die Geschichte wiederholt sich." Klitschko ist in Köln, um zusammen mit Tatjana Kiel und anderen Mitwirkenden sein Buch "Gestohlene Leben" vorzustellen.

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Klitschko betont, dass es sich bei den Kindern, die von Russen verschleppt werden, um sie "zu brainwashen, sie umzuerziehen, sie zu Kampfmaschinen zu machen, die gegen ihre eigenen Familien, ihr eigenes Volk kämpfen sollen", nicht einfach "nur" um ukrainische Kinder handelt. "Es sind unsere Kinder, sie sind unsere Zukunft, wie alle Kinder dieser Welt." Das Buch erscheint heute, mit voller Absicht am Weltkindertag. Worum geht es? Klitschko: "Sie werden keinen Spaß haben, das Buch zu lesen, aber es ist unsere Verantwortung zu verstehen, was Unmenschliches, nur ein paar Kilometer entfernt von uns, passiert."

Laut Nationalem Informationsbüro der Ukraine wurden fast 20.000 ukrainische Kinder auf russisches Gebiet verschleppt. "Die Russen sagen gern, dass sie 700.000 von unseren Kindern haben, um anzugeben. Das stimmt nicht", sagt Wladimir Klitschko. "Aber eines weiß ich genau - dieser Krieg wird Konsequenzen haben. Wir werden nicht zusammenbrechen und wir werden dafür sorgen, dass alle Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt werden." Bereits im März 2023 erließ der Internationale Strafgerichtshof aus diesem Grund einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

"Die Reise der Mütter ist gefährlich"

Die erfolgreichen Rettungsmissionen, die in dem Buch beschrieben werden, organisiert von Hilfsorganisationen wie der ukrainischen Save Ukraine, geben den Familien, die ihre Kinder vermisst gemeldet haben, Hoffnung. Von Deutschland aus unterstützt #WeAreAllUkrainians, die Hilfsorganisation, die Wladimir Klitschko und Tatjana Kiel gleich in den ersten Kriegstagen des Februars 2022 gegründet haben, die Arbeit von Save Ukraine: Mit offiziellen Dokumenten und großem Mut reisen Angehörige, vor allem Mütter, mithilfe von Save Ukraine über die russische Grenze, um ihre Kinder aus Lagern nach Hause zu holen. "Das ist ein Kampf für die freie Welt, den die Familien dieser Kinder kämpfen", sagt Klitschko, und Tatjana Kiel ergänzt: "Diese 'Reise', die die Mütter und oft auch die Großmütter antreten, um ihre Kinder zurückzuholen, ist gefährlich. Sie dauert meist drei bis vier Wochen und ist mit großen Strapazen verbunden." Kiel appelliert, weiterhin zu spenden, denn nur so können weitere, hoffentlich alle, entführten Kinder zurückgeholt werden.

Für die, die es geschafft haben, steht nach ihrer Rückkehr psychologische Betreuung und Wohnraum in sogenannten "Hope & Healing Centers" zur Verfügung. Zusätzlich werden alle Fälle für die Anklage in Den Haag detailliert dokumentiert. "Gestohlene Leben" dient der Aufklärung über das Schicksal der Kinder. Es ruft dazu auf, nachhaltig zu helfen. Es erzählt von den Schicksalen entführter Kinder, von zerrissenen Familien und verzweifelten Eltern. Es deckt die staatlich gesteuerte, gezielte Kampagne Russlands auf und legt dar, was Deutschland tun kann, um sie zu bekämpfen. Nicht zuletzt werden die mutigen Menschen vorgestellt, die gestohlene Kinder suchen und nach Hause zurückbringen.

Die Honorare und Einnahmen der Autoren Wladimir Klitschko und Tatjana Kiel aus dem Buchprojekt fließen zu 100 Prozent in Hilfsmaßnahmen von #WeAreAllUkrainians für die deportierten Kinder. "Let's keep on punching", sagt Klitschko, lächelt und macht eine typische Handbewegung aus seinem früheren Leben. Dem Boxer Wladimir Klitschko nimmt man hundertprozentig ab, dass er nicht ruhen wird, ehe alle Kinder wieder zu Hause sind. Vor dem Kämpfer Klitschko, der sein Land verteidigt, sollten seine Feinde sich in Acht nehmen. 163 Kinder sind bereits zurück in der Ukraine. "Das hört sich wenig an, aber wir arbeiten weiter", sagt Tatjana Kiel. "Jedes einzelne Kind zählt", fügt Wladimir Klitschko hinzu. Einige der Kinder kommen in dem Buch zu Wort.

Einer von ihnen ist Viktor (Auszug aus dem Buch "Gestohlene Leben"):

Viktors Familie kommt aus Cherson. Er war in den Camps "Druschba" und "Lutschystyj", außerdem wurde er für sechs Monate auf eine Akademie im Gebiet von Cherson geschickt. Viktor ist ein überaus selbstbewusster junger Mann, der sich nicht so leicht etwas sagen lässt. Das kostet ihn ein paar Tage in einer Einzelzelle. Während unseres Gesprächs ertönt Bombenalarm in Kyiv. Dort sind Mutter und Sohn im Hope & Healing Center, im Hintergrund Sirenengeheul. Meine Kontaktperson vor Ort beruhigt mich zum wiederholten Mal, dass noch kein Grund zur Sorge bestehe, es seien noch keine Raketen nahe der Stadt in Sicht. "Wir haben eine App, auf der wir die Warnungen bekommen", sagt Ksenia und bedeutet mir, dass alles okay ist. Mal wieder. "Für uns ist das eine normale Situation!" Fast erscheint sie mir ein wenig ungeduldig, weil ich nicht kapiere, wie sie dort vor Ort mit der ständigen Bedrohung umgehen, aber sie will einfach nur, dass ich mir keine Sorgen mache.

Was mich wirklich beruhigt, ist Viktors Stimme - sie ist tief und ruhig. Sie klingt so, als würden Mädchen sich gern das Telefonbuch von ihm vorlesen lassen. Er weiß das. Er ist charmant, er kann erzählen. Wenn seine Mutter etwas ergänzen will, sagt er: "Mama, ist gut", und lächelt sie an. Stimmt natürlich, er kann seine Geschichte selbst viel besser erzählen: "Ich ging auf eine Marine-Schule. Als die Russen nach Cherson kamen, haben sie das Programm der Schule auf Russisch umgestellt. Sie haben einfach den Lehrplan geändert. Es war der 8. November, als sie uns mitteilten, sie würden jetzt die ganze Schule evakuieren. Ich wollte meine Mama anrufen und das mit ihr besprechen, aber sie erlaubten es nicht. Niemand sollte mit irgendjemandem darüber diskutieren können. Es sei eine abgemachte Sache und hier würde nicht rumgezickt, es ginge jetzt los. Wir wurden also auf der Stelle evakuiert."

Es ging auf die Krim. "Das Militär brachte uns zum Hafen von Cherson und übergab uns an Leute, die ab jetzt auf uns achten sollten und uns begleiteten. Wir wurden zuerst ins Druschba-Camp gebracht und später nach Jewpatorija ins Lutschystyj-Camp. Meine Mutter hatte keine Ahnung, dass ich auf die Krim gebracht wurde - und zwar für ein paar Monate!"

"Ich habe nicht mitgesungen"

Tetyana schaut zu Boden. Sie will nicht, dass wir ihre Tränen sehen. Viktor fährt fort: "Dieser Typ vom Militär, der uns schon in der Schule gesagt hat, dass wir jetzt evakuiert werden, verbot uns, mit unseren Leuten zu sprechen. Nach einiger Zeit wurde ich auf eine Akademie geschickt, die sich wieder im Gebiet von Cherson befand. Dort blieb ich sechs Monate. Wir mussten das tun, was sicher alle anderen auch tun: die russische Nationalhymne singen, ein straffes Programm durchziehen, Sport, russische Geschichte. Es war ätzend. Ich habe nicht mitgesungen. Sie haben versucht, mich zu überzeugen, mich bedrängt. Aber ich habe Nein gesagt. Ich fand, dass es mein Recht ist, Nein zu sagen. Ich war schon in dem zweiten Camp für ein paar Tage eingesperrt gewesen, im Keller, sie konnten mich aber nicht einschüchtern."

"Weswegen wurdest du eingesperrt?", frage ich Viktor. "Ich habe die russische Flagge gegen ein Paar Unterhosen ausgetauscht." Er grinst. Ksenia muss lachen. Sie kann trotz allem nicht mehr ernst bleiben. Und ich sehe dieses Bild vor mir: Die russische Nationalhymne erklingt, alle Kinder sind im Hof versammelt, stehen stramm, sollen mitsingen, dann wird die Fahne gehisst, und es hängt eine Unterhose statt der russischen Nationalflagge am Mast - das ist wirklich zu komisch! Die Strafe dafür, im Keller eingesperrt zu werden, in Dunkelheit und Isolation, war dann natürlich nicht mehr witzig. Aber Viktor wirkt so, als wäre ihm jede Minute, in der er die anderen Kinder zum Lachen gebracht hat, das alles wert gewesen. In dem Keller war es natürlich schrecklich - feucht, kalt, dunkel, es gab nur ein winziges Fenster, durch das er die Füße der anderen vorbeilaufen sehen konnte.

Kommunikation war nicht möglich, denn das wäre für die anderen viel zu gefährlich gewesen. Seine Freunde ließen sich aber nicht abschrecken, sie reichten ihm ein Handy durchs Fenster, und Viktor rief seine Mutter an. Er berichtete ihr, dass man ihm angedroht hatte, ihn in eine psychiatrische Klinik und in eine Zwangsjacke zu stecken. Seine größte Angst war jedoch, dass man ihn mit Medikamenten zudröhnen könnte, dass man ihm seinen freien Willen nehmen könnte.

Junge Menschen - keine Opfer

Unser Gespräch endet abrupt, als Ksenia sagt, sie müsse jetzt irgendwo einen Schutzraum oder Keller aufsuchen, es seien Raketen im Luftraum über der Stadt. Stunden später höre ich von ihr, dass es allen gut geht, wir aber erst einmal nicht weitersprechen können.

Wieder einmal bin ich zutiefst beeindruckt von meinen Gesprächspartnern. Mir ist in diesem Videocall klar geworden, dass wir es hier nicht nur mit Kindern zu tun haben, die ihren Eltern weggenommen wurden, die verängstigt sind und sich wehrlos fühlen - in diesem Gespräch ist mir klar geworden, dass es sich hier auch um junge Menschen handelt, die keine Lust darauf haben, Opfer zu sein. Opfer eines Krieges, Opfer eines Systems, Opfer anderer Leute, die meinen, mit anderen Menschen umgehen zu können, als wären diese nichts wert.

Das Bild der am Flaggenmast gehissten Unterhose werde ich für immer im Gedächtnis behalten - als Symbol für den Widerstand einer Jugend, die selbst in der schlimmsten Situation nicht aufgibt und es sogar schafft, den Besatzern Streiche zu spielen. Und dann, mit erhobenem Kopf, die Konsequenzen trägt.

Das Gespräch mit Tetyana und Viktor sowie alle Gespräche im Buch hat Sabine Oelmann geführt und aufgeschrieben.

Quelle: ntv.de

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