Unbekannter Held des Krieges Der Mann, der die Ukrainer nach Hause holt


Dmytro Lubinez bei einer Konferenz in der türkischen Hauptstadt Ankara im Januar 2023.
(Foto: picture alliance / AA)
Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinez ist einer der vergleichsweise unbekannten Helden des Ukraine-Kriegs. Er organisiert den Austausch von Kriegsgefangenen mit Russland und macht das offenkundig sehr gut.
Während Präsident Wolodymyr Selenskyj und auch der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj internationale Bekanntheit erlangten, ist Dmytro Lubinez der internationalen Öffentlichkeit kaum ein Begriff. Dabei gehört auch der 41-Jährige, der aus der aktuell von den russischen Truppen besetzten Stadt Wolnowacha in der Region Donezk stammt, zu den Helden auf der ukrainischen Seite des Abwehrkriegs gegen Russland.
In den ersten Monaten der großen russischen Invasion fuhr Lubinez mehrfach als freiwilliger Helfer an die Front, und zwar sowohl mit militärischer als auch mit humanitärer Hilfe, bevor der gelernte Historiker und Jurist im Sommer 2022 Menschenrechtsbeauftragter des ukrainischen Parlaments wurde. Gerade in Kriegszeiten gehört zu diesem Amt, viele Interviews zu geben. Der wichtigste Teil seiner Arbeit findet jedoch hinter verschlossenen Türen statt.
Das Problem mit den Listen
So fand am vergangenen Sonntag - für die orthodoxen Kirchen war dies der Ostersonntag - wieder ein Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland statt, bei dem 130 ukrainische Soldaten nach Hause zurückkehrten. Insgesamt konnte Kiew im Laufe dieses Krieges 2235 seiner Soldaten zurückholen. Der Verhandlungsprozess, der hinter diesen Zahlen steht, ist stets extrem kompliziert. Dabei ist die direkte Kommunikation zwischen Lubinez und seiner russischen Kollegin Tatjana Moskalkowa bei Weitem nicht das größte Problem. Trotz der angespannten Atmosphäre und der vielen skandalösen Äußerungen Moskalowas dürften die Gespräche professionell verlaufen.
Doch zum einen gehört zu einem Gefangenenaustausch die Erstellung von Listen, wer überhaupt ausgetauscht werden könnte. Das ist im Chaos des Krieges ohnehin sehr schwierig. Zum anderen gibt es keine Garantie, dass die Personen, die auf den Listen stehen, tatsächlich ausgetauscht werden wollen. Dieses Problem kennen die Beteiligten noch aus dem 2014 begonnenen Krieg im Donbass. Es kam zum Beispiel immer wieder vor, dass Kämpfer der sogenannten prorussischen Separatisten keine Lust hatten, in die "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk zurückzukehren. Für viele war es eine bessere Alternative, eine Haftstrafe auf dem von Kiew kontrollierten Gebiet abzusitzen, um danach schlicht dort zu bleiben.
Nach Heimkehr Haft
Dieses Problem gibt es auch in der Kriegsphase seit dem 24. Februar 2022. Denn im letzten Herbst wurde die Gesetzgebung in Russland so verschärft, dass jedem eine Haftstrafe zwischen drei und zehn Jahren droht, der sich freiwillig der gegnerischen Armee ergibt. "Freiwillige Aufgabe" bedeutet laut der Definition des Obersten Gerichts Russlands, dass es eine Möglichkeit gab, "gegen den Feind entscheidenden Widerstand zu leisten und einer Gefangennahme zu entgehen". Wie genau so etwas festgestellt werden soll, ist unklar. Außerdem: Es ist zwar unbekannt, wie viele Russen genau am oder um den 16. April aus ukrainischer Gefangenschaft nach Russland zurückgekehrt sind. Die meisten dürften aber entweder aus der Söldnergruppe Wagner von Jewgeni Prigoschin oder aus tschetschenischen Bataillonen stammen.
Ramsan Kadyrow, Diktator der russischen Teilrepublik Tschetschenien, hat sich demonstrativ geweigert, fünf zurückgekehrte tschetschenische Kämpfer zu treffen. "Ein tschetschenischer Soldat soll keinen Grund haben, gefangen genommen zu werden. Er muss beweisen, keine andere Wahl gehabt zu haben, und das mit der Rückkehr an die Front", betonte Kadyrow. Dagegen garantiert die Ukraine den russischen Gefangenen die Geheimhaltung der Umstände ihrer Aufgabe sowie die Möglichkeit, nicht nach Russland zurückzukehren. Und obwohl es beim Umgang mit Gefangenen auch auf der ukrainischen Seite zu Menschenrechtsverstößen kommt, ist der Wunsch nach Rückkehr nach Russland bei vielen nicht besonders groß.
Auch Kinder werden zurückgeholt
Unter solchen Umständen kommt es nicht selten vor, dass ein Gefangenenaustausch in letzter Sekunde scheitert, weil auf der einen oder auf der anderen Seite jemand fehlt. Ausgerechnet hier scheint Dmytro Lubinez besondere Sorgfältigkeit und Hartnäckigkeit zu zeigen. Darüber hinaus ist der 41-Jährige für kreative Lösungen offen und hat eine Schlüsselrolle beim spektakulären Gefangenenaustausch im letzten September gespielt, als Wiktor Medwedtschuk, ein ehemaliger ukrainischer Oligarch und enger Putin-Freund, zusammen mit 55 russischen Soldaten gegen 215 Ukrainer ausgetauscht wurde, zu denen die bekanntesten Kommandeure des in Russland dämonisierten Asow-Regiments gehörten.
Noch komplizierter ist die Rückkehr der nach Russland verschleppten ukrainischen Kinder - eine Angelegenheit, die zum Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes gegen Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Marija Lwowa-Belowa führte. Kiew spricht von mehr als 19.000 deportierten Kindern. Die Hauptschwierigkeit ist dabei, dass es sich um sehr viele unterschiedliche Einzelschicksale handelt. Es betrifft sowohl Kinder aus neu besetzten Gebieten als auch Kinder aus Gegenden, die bereits seit 2014 besetzt waren. Die Kinder können entweder keine Eltern mehr haben oder die Eltern können unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob das Kind in Russland bleiben soll. Und vor allem: Viele Kinder haben gar keine Dokumente dabei.
All das macht die Erstellung einer vollumfänglichen Kinderliste nahezu unmöglich. Trotzdem hat sich der Prozess in den letzten Wochen intensiviert, nicht zuletzt aufgrund des Einsatzes von Lubinez. Am 7. April beispielsweise kamen 31 Kinder aus den Bezirken Charkiw und Cherson in die Ukraine, die nach dem 24. Februar 2022 nach Russland gebracht worden waren. Dabei müssen die Kinder faktisch über die Front gefahren werden, wofür unzählige Absprachen auf beiden Seiten benötigt werden.
"Über ihn werden viele Geschichten geschrieben"
Interessanterweise hatte die Ernennung von Dmytro Lubinez zum Menschenrechtsbeauftragten im Juli 2022 zu Kritik von ukrainischen Menschenrechtlern geführt, obwohl seine Vorgängerin Ljudmyla Denissowa recht umstritten war: Sie hatte sich an den Gefangenenaustauschen kaum beteiligt, auch waren ihre Berichte über Vergewaltigungen durch russische Soldaten teils kaum verifizierbar. Es gab jedoch Zweifel, ob Denissowas Entlassung in Zeiten des Kriegsrechts juristisch richtig verlaufen war. Darüber hinaus wünschten sich viele einen prominenten Menschenrechtler auf der Position, nicht einen Politiker - Lubinez war vor seiner Berufung zum Menschenrechtsbeauftragten Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses des ukrainischen Parlaments, als Parlamentsabgeordneter hatte er zudem nicht immer für positive Schlagzeilen gesorgt. So gehörte er 2015 zu einer Gruppe von Abgeordneten, die eine Pflicht zur Offenlegung von Beamteneinkünften abschaffen wollten.
Aktuell ist Dmytro Lubinez allerdings unumstritten. Vor allem, weil nicht zu übersehen ist, dass er sehr viel effizienter als seine Vorgängerin arbeitet. Aber auch, weil er sowohl in einem emotionalen, aber angemessenen und sachlichen Ton mit den Ukrainern kommuniziert - und mit seinem soliden Englisch die Position Kiews dem internationalen Publikum nahebringt. Gelobt wird der 41-Jährige aber sogar in Russland. "Lubinez ist ein Name, den man sich merken sollte. Über ihn werden viele Geschichten geschrieben, er macht richtig viel", sagt Alexej Wenediktow, Chefredakteur des geschlossenen Radiosenders Echo Moskwy und langjähriger Mediator zwischen dem Kreml und der russischen Opposition. Wenediktow weiß, wovon er spricht: Er steht im engen Kontakt mit der russischen Menschenrechtsbeauftragten Moskalkowa und war selbst im Donbass-Krieg an der Organisation von Gefangenenaustauschen beteiligt.
Quelle: ntv.de