Panorama

Epidemiologe Ulrichs bei ntv "Durchseuchung geht schneller als erwartet"

Die vierte Corona-Welle baut sich auf - und sie scheint größer zu werden als alle bisherigen. Epidemiologe Ulrichs erklärt bei ntv, woran das liegt und was helfen kann, die Dynamik doch noch zu brechen. Fest steht: Der Winter wird schwierig. Aber im Frühjahr ist laut Ulrichs die dann endgültig letzte Welle beendet.

ntv: Die Zahlen steigen, auf den Intensivstationen liegen jetzt schon mehr Menschen als noch vor einem Jahr. In der letzten Woche sind allein in Deutschland 600 Menschen an Covid-19 gestorben. Haben wir da was unterschätzt?

Timo Ulrichs: Ja, in der Tat. Es war ja die Hoffnung, dass wir mit der Durchimpfungskampagne so weit vorangehen könnten, dass wir nur noch eine kleine vierte Welle sehen, vor allen Dingen nicht mehr so starke Auswirkungen in Richtung Krankenhauseinweisungen und Intensivbettenbelegung. Aber es wird mit der Durchimpfung leider erst epidemiologisch wirksam, wenn wir an die 80 bis 85 Prozent rankommen. Und da sind wir leider noch nicht. Deswegen sehen wir jetzt gerade, dass wir parallel eine Durchseuchung haben, die schneller vonstattengeht, als wir es erwartet hatten. Die recht hohe Welle ist auch mit dadurch bedingt, dass wir uns schon so leicht auf der sicheren Seite gewähnt haben. Jetzt werden noch sehr viele Ungeimpfte infiziert und erkranken zum Teil schwer.

Können wir jetzt noch was machen, damit die Welle nicht noch schlimmer wird?

Wir können uns überlegen, die vorhandenen Instrumente wieder etwas schärfer zu stellen. Das heißt, dass wir bis hin zum Lockdown voranschreiten - allerdings nur für Ungeimpfte. So ähnlich, wie das Österreich schon vorgeschlagen hat, das ist ein guter Weg, ohne dass wir bei den vollständig Geimpften größere Einschränkungen verhängen müssten. Denn die vollständig Geimpften stellen nur noch ein sehr geringes Risiko dar. Man könnte auch hier nochmal eine Sicherheitslinie einbauen, indem man in bestimmten Bereichen weitere Testungen erforderlich macht. In Alten- und Pflegeheimen wird das ja auch schon gemacht. Das könnte man ausweiten auf verschiedene andere Zusammentreffen.

Die epidemische Lage soll beendet werden, es soll keine Lockdowns, keine Schulschließungen geben, man redet sogar schon davon, die Pandemie sei im Frühjahr vorbei. Kann man das jetzt schon so sagen und machen?

Die Aufhebung der epidemischen Lage ist ja etwas Formales. Das heißt, dass die Sonderkompetenzen für das Bundesgesundheitsministerium wieder zurückgenommen werden. Das ist völlig in Ordnung. Gesundheit ist Ländersache in Deutschland. Und man sollte sehen, dass auch die Länder nach eineinhalb Jahren Pandemie so viel gelernt haben sollten, dass sie diese Maßnahmen, die es ja gibt, die auch erprobt sind, wieder stringent anwenden. Allerdings ist das natürlich ein falscher Ton, der da in die Diskussion reinkommt. Wir sind noch nicht über den Berg, aber wir haben Licht am Ende des Tunnels. Nämlich indem wir tatsächlich davon ausgehen können, dass so Richtung Frühling die vierte Welle zu Ende sein wird. Und danach wird auch keine weitere mehr kommen.

In den Krankenhäusern liegen jetzt auch vermehrt Geimpfte, zum Teil auch auf den Intensivstationen mit schweren Verläufen. Wie kann das denn sein?

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Der Epidemiologe Timo Ulrichs - hier im Gespräch mit ntv-Moderatorin Doro Steitz - ist Professor für Medizin, Mikrobiologie und Katastrophenhilfe an der Akkon-Hochschule in Berlin.

Wer vollständig geimpft ist, hat ein stark vermindertes Risiko, infiziert zu werden und auch ein stark vermindertes Risiko überhaupt zu erkranken, es überhaupt zu merken. Wenn das doch vorkommt, ist in vielen Fällen eine Vorerkrankung da, also eine Schwächung des Gesamtorganismus. Und das in der Kombination mit einer doch dann stattfindenden Infektion - das kann ja doch durchaus sein - kann zu einem schweren Verlauf führen. Colin Powell zum Beispiel war ja vollständig geimpft, hatte aber viele Vorerkrankungen. Und das war dann eine Herausforderung seines Immunsystems zu viel.

Die STIKO empfiehlt jetzt Boosterimpfungen für über 70-Jährige. Wie schnell muss das jetzt gehen und geht das schnell genug? Derzeit sind weniger als eine Million Deutsche zum dritten Mal geimpft.

Es gibt sehr viele Studien, die eindeutig belegen, dass diese dritte Boosterimpfung sehr hilfreich sein kann, wenn sie in der Fläche eingesetzt wird für Menschen mit erhöhtem Risiko für schwere Verläufe. Das sollten wir jetzt in Deutschland auch konsequent umsetzen. Dazu könnte nötigenfalls auch wieder die Impfkapazität erweitert werden durch das Wiederaufmachen von Impfzentren. Auf jeden Fall aber, indem mobile Impfteams in die Alten- und Pflegeheime gehen.

Sollten auch die Jüngeren noch eine dritte Impfung bekommen?

Schaden tut es jedenfalls nicht. Allerdings sollte man jetzt erst einmal die Kapazitäten dahin ausrichten, dass wir die Älteren, also die über 70-Jährigen zuerst damit versehen. Wir haben genügend Impfstoff. Es ist jetzt die Frage der Logistik - also wie wir das möglichst schnell hinbekommen.

Mit Timo Ulrichs sprach Doro Steitz

Quelle: ntv.de

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