Panorama

Besuch bei den HexenmeisternItaliener vertrauen Tarockkarten und Sternen

22.06.2019, 17:11 Uhr
imageVon Andrea Affaticati, Mailand
IMG-0698
Signora Rosi wartet in der Via Fiori Chiari auf Kundschaft. (Foto: Andrea Affaticati)

Wie werden die Geschäfte laufen? Wie steht es um die Liebe? Wenn es um Zukunftsfragen geht, setzt fast jeder vierte Italiener auf die Dienste von Kartenlegern und Sterndeutern. Die berühmteste Wahrsager-Straße liegt ausgerechnet in einer Wirtschaftsmetropole.

Es ist 9 Uhr abends. In der kleinen pittoresken Altstadtgasse Via Fiori Chiari gleich gegenüber der Mailänder Kunstakademie Brera ist es trotzdem noch brütend heiß. Das mag auch der Grund sein, weswegen erst drei, vier Kartenleser ihre Tischchen aufgestellt haben. Darunter auch Signora Rosi, die berühmteste unter ihnen. Man sieht und erkennt sie von Weitem. Sie ist eine imposante Frau mit einem rosafarbenen Strohhut und einer markanten schwarzen Brille. Gerne gibt sie Auskunft über ihr Metier. Aber zuerst will sie noch ihre glitzernde Pailletten-Robe überziehen, die großen Tarockkarten (im Deutschen auch als Tarot bekannt) auf den Tisch legen und eine Kerze anzünden.

IMG-0724
Jeder vierte Italiener hat sich 2018 bei einer Wahrsagerin oder einem Wahrsager Rat gesucht. (Foto: Andrea Affaticati)

Signora Rosi kommt aus Neapel, lebt aber schon seit 38 Jahren in Mailand. Sie empfängt ihre Kunden zu jeder Jahreszeit. Leute anzulocken hat sie nicht nötig. Ihre Person und ihr Outfit genügen, um Neugierde zu wecken. Was ihre Kunden von ihr wissen wollen? "Na, das Übliche, die Frauen fragen, wie es um die Liebe steht, die Männer, wie die Geschäfte laufen werden." Aber was hat sie von Neapel hierher verschlagen? "Das Geld natürlich, hier haben die Leute Geld", antwortet sie prompt. Und dann ist es schon wieder vorbei mit dem Geplauder, eine junge Frau nähert sich ihr und Frau Rosi sagt "Ciao, ciao".

Die Via Fiori Chiari ist eine der berühmtesten Wahrsager-Straßen Italiens und gehört auch deswegen zu den Sehenswürdigkeiten dieses ehemaligen Mailänder Künstlerviertels. Die Kartenleser findet man hier auch im Winter, eingemummelt in dicke Jacken und Pelze. Sobald es dunkel wird, flackern auf jedem Tischchen Kerzen oder kleine Gaslampen. Der Anblick hat zweifellos seinen Reiz. Man vermutet eine solche Straße eher in Süditalien, zum Beispiel in Neapel. Die eigentliche Überraschung aber ist eine andere: dass gerade in Italiens pragmatischer Wirtschaftsmetropole ein Großteil dieser Zunft lebt und arbeitet. Offiziell zählt man in Mailand 1600 Wahrsagerinnen und Wahrsager. Das entspricht landesweit 40 Prozent. Viele von ihnen haben mittlerweile eine Website und sind außerdem telefonisch oder via Skype zu erreichen.

Ein Acht-Milliarden-Euro-Geschäft

Dass die Italiener eine gewisse Neigung zum Okkulten und zum Aberglauben haben, ist allgemein bekannt: Wenn einem eine schwarze Katze über den Weg läuft, sollte man auf keinen Fall weitergehen. Besser man wartet, bis jemand anders vor einem die Stelle passiert. Auch unabsichtlich Salz zu verstreuen, soll Unglück bringen. Und dann ist da noch die Zahl 17. Wenn im Kalender der 17. auf einen Freitag fällt, heißt es, sich besonders in Acht zu nehmen. Für einen Zugewanderten sind es irre Rituale. Aber man verinnerlicht sie irgendwann selbst. Kein Wunder also, dass zu Jahresbeginn die Zeitschriften mit den Horoskopen im Nu ausverkauft sind. Denn die Menschen wollen nicht nur dem Unglück vorbeugen, sondern auch wissen, was ihnen die Zukunft bringt.

Laut einer vom Konsumentenverband Codacons veröffentlichten Studie haben sich voriges Jahr 13 Millionen Italiener an Wahrsager, Kartenleser oder Astrologen gewendet. Fast jeder Vierte also. Eine beachtliche Zahl, die während der Wirtschaftskrise stark gestiegen ist. 2001 waren es noch zehn Millionen. Insgesamt erwirtschaftet die Branche jährlich acht Milliarden Euro, wobei es sich um eine Schätzung handelt. Denn es gibt auch viele Pfuscher, die schwarzarbeiten. Immer wieder liest und hört man von ihnen, oft sind die Betrugsopfer bekannte Persönlichkeiten - Schauspieler, Fernsehmoderatoren, Sänger.

Gabriella Monzi, eine schlanke, brünette Frau Mitte 50, weiß von diesem Problem und will auf keinen Fall mit den Pfuschern in Verbindung gebracht werden. Monzi ist Astrologin und Kartenlegerin. Sie empfängt in einer hellen, geschmackvoll eingerichteten Wohnung in einem bürgerlichen Viertel Mailands. Es könnte genauso gut die Praxis eines Psychologen sein. Auf den Regalen stehen Bücher, an den Wänden hängen interessante Bilder, von Glaskugeln und derlei Utensilien ist nichts zu sehen. Monzi kommt aus Umbrien und übt ihren Beruf seit 35 Jahren aus, gibt Tarockkurse und schreibt für Fachzeitschriften. Davor hat sie Philosophie und Psychologie studiert.

Die Kirche warnt vor den Hexenmeistern

Dass fast jeder vierte Italiener eine Wahrsagerin oder einen Wahrsager aufsucht, wertet sie als eine gesunde und intelligente Lebenseinstellung. "Das sind keine Verrückten oder momentan Durchgedrehte", sagt sie mit Nachdruck. Ihre Klientel setzt sich zum Beispiel vor allem aus Intellektuellen, Finanzberatern und Freiberuflern zusammen, also aus Menschen, die aus einer eher gehobenen Schicht kommen. "Wobei es nicht beabsichtigt ist, dass ich vornehmlich mit diesem Milieu zu tun habe. Ich mache keine Werbung, die Leute kommen zu mir, entweder weil ich weiterempfohlen wurde oder weil sie meine Artikel lesen." Dass die Wirtschaftskrise ihr mehr Kunden beschert hätte, kann sie jedoch nicht bestätigen. Der Großteil ihrer Klientel kommt regelmäßig einmal im Monat. "Was sie von mir erwartet, ist natürlich nicht die endgültige Wahrheit, sondern vielmehr einen Lichtblick, so etwas wie einen Wegweiser." Zum Zeitvertreib Karten zu lesen, sei die eine Sache. Aber wenn das zum Beruf wird, müsse man Talent, ein gewisses Einfühlungsvermögen und natürlich studiert haben.

Obwohl so viele Menschen den Rat eines Wahrsagers suchen, ist es fast unmöglich, jemanden zu finden, der es zugibt. Man muss schon sehr eng befreundet sein, bevor sich jemand dazu bekennt. Viel leichter ist es, einen Seitensprung zu gestehen. Was wahrscheinlich auch damit zu tun hat, dass die katholische Kirche ihre Getreuen seit jeher vor den "Stregoni", den Hexenmeistern, warnt.

Und das Skurrile ist, dass selbst Frau Rosi aus dem Brera-Viertel auf die Frage, wie sie eigentlich wahrgenommen wird, schroff antwortet: "Was soll das? Das beantworte ich nicht." Die junge Frau, die sich zu ihr gesetzt hatte, ist schnell wieder verschwunden. Wer weiß, vielleicht war ihr die Sache dann doch nicht ganz geheuer.

Italien