Entführungsopfer teilt Erfahrung Marc Wallert weiß, wie man an Krisen wächst
09.05.2020, 15:24 Uhr
Im Frühjahr 2000 nehmen Mitglieder der radikal-islamischen Terrorgruppe Abu Sayyaf Marc Wallert (Mitte), seine Eltern und 18 weitere Touristen als Geiseln.
(Foto: picture-alliance / dpa)
Vor 20 Jahren wird Marc Wallert von islamistischen Terroristen verschleppt. Mehrere Monate muss er auf einer philippinischen Insel ausharren, bis er schließlich freigelassen wird. Im Dschungel lernt der damals 26-Jährige mit Krisen umzugehen. "Das Wichtigste ist, nicht den Kopf zu verlieren", sagt er heute.
Es sollte ein Traumurlaub werden - doch es wurde ein Albtraum. Im Frühjahr 2000 begleitete Marc Wallert seine Eltern in einen Tauchurlaub nach Malaysia. Auf der Pazifikinsel Sipadan wollte der damals 26-jährige Göttinger sich von seinem stressigen Job als Berater erholen. "Es war alles sehr idyllisch auf der kleinen Insel", erinnert sich Wallert im Gespräch mit RTL. "Und dann stehen da plötzlich schwer bewaffnete Menschen mit Patronengurten. Einer hatte einen Raketenwerfer auf der Schulter."
Die Wallerts und 18 weitere Touristen wurden am 23. April von Mitgliedern der radikal-islamischen Terrorgruppe Abu Sayyaf überfallen und zum Strand getrieben. Es folgte eine 20-stündige Boots-Odyssee über das offene Meer auf die Insel Jolo, dann ein 10-stündiger Fußmarsch durch den Dschungel. In wechselnden Dschungelverstecken wurden die Entführten gefangen gehalten. "Wir hatten kaum etwas zu essen", erzählt Wallert. "Wir haben uns nur von Reis ernährt und Flusswasser getrunken." Medizinische Versorgung gab es keine.
Doch nicht nur die widrigen Umstände im Camp waren für die Geiseln lebensgefährlich. Immer wieder mussten ihre Entführer vor dem philippinischen Militär fliehen. "Wir hatten Todesangst vor den Gefechten mit dem philippinischen Militär", erinnert sich Wallert. "Wir waren ja immer mittendrin als Schutzschild." Bereits früh drohten ihnen die Terroristen mit Enthauptung.
Die Unsicherheit ist die größte Herausforderung
"Das Verrückte an der ganzen Geschichte ist, dass wir fast von Anfang an Journalisten vor Ort hatten." Als erster deutscher Reporter wagt sich der RTL-Reporter Carlo Schlender ins Camp. Im Interview erzählt ihm der junge Wallert damals: "Das Schwierigste ist hier, dass man nichts erfährt und sich von Tag zu Tag kaum etwas ändert. Das Ende ist nicht absehbar." Diese Situation sei mit der jetzigen Corona-Lage gut vergleichbar, meint Wallert. "Man weiß nicht, wie lange die Krise dauern wird. Bei uns hat man auch alles Mögliche gehört - die Verhandlungen laufen wieder, es kann ganz schnell gehen und dann wieder doch nicht." Diese Unsicherheit sei die größte Herausforderung von allen gewesen.
Dass die Reporter nach dem Interview einfach wieder gehen konnten, war für die Geiseln nur schwer zu ertragen. "Sie konnten diese unsichtbare Grenze durchlaufen, über die wir nicht rausdurften." Es vergingen Wochen, dann Monate. Nach 140 Tagen und einer Lösegeldzahlung kam Wallert am 9. September als eine der letzten Geiseln frei. Seine Eltern waren zu dem Zeitpunkt bereits zurück in Göttingen. "Nach all dem Warten und Bangen, nach Monaten absoluter Unsicherheit, spürte ich, dass ich wieder in Freiheit war." Ein sehr bewegender Moment für ihn. "Ich bin geplatzt vor Freude."
Eine Frage des richtigen Mindsets
Wallert wünscht es niemandem, eine Entführung durchzumachen. Aber es ist gut ausgegangen und es hat ihn stark gemacht. Zumindest für die erste Zeit. Im Dschungel habe er gewusst, wofür er kämpfe: das Überleben. Zurück in der Heimat fehlte ihm als erfolgreicher Manager irgendwann die Motivation. Fünf Jahre nach seiner Freilassung fällt er in ein berufliches Tief. Diagnose: Burnout. Doch auch diese Krise besteht er. "Ich habe gemerkt, dass es keine Lösung ist, nach Krisen einfach aufzustehen und weiterzumachen", sagt er rückblickend. "Ich muss mich fragen, was ich daraus gelernt habe. Und was ich an meinem Leben ändern kann, damit sich eine ähnliche Krise in Zukunft nicht wiederholt."
Mittlerweile arbeitet der 46-Jährige als Trainer und Berater. Er schult Menschen und Unternehmen in Krisen und macht ihnen als Resilienz-Trainer Mut. In seinem kürzlich erschienenen Buch "Stark aus Krisen" verarbeitet er seine Erfahrungen im philippinischen Dschungel. Es ist allerdings weniger eine Chronologie seiner Entführung, sondern vielmehr eine Anleitung für jedermann, persönliche und berufliche Krisen zu bewältigen.
Gerade jetzt zu Corona-Zeiten sieht Wallert viele Parallelen zu der Situation als Geisel: "Wir sind mittendrin und wissen nicht, wie lange es dauern wird." Dafür brauche man ein sehr starkes "Mindset": "Man muss optimistisch bleiben und an ein gutes Ende glauben." Verzweiflung und der Gedanke an Horrorszenarien seien kontraproduktiv. "Zugleich muss man sich aber auch innerlich darauf vorbereiten, dass es lange dauern kann." Das Wichtigste in einer Krise sei, nicht den Kopf zu verlieren - egal, was kommt. "Und positiv zu bleiben."
Quelle: ntv.de