Panorama

"Nährboden für Sexualstraftäter" Snapchat: Die App der Kinder und der Ort der Täter

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
"Ich würde meinen Kindern nicht erlauben, Snapchat allein zu nutzen", sagt ein Ex-Mitarbeiter aus dem "Trust and Safety"-Team von Snapchat.

"Ich würde meinen Kindern nicht erlauben, Snapchat allein zu nutzen", sagt ein Ex-Mitarbeiter aus dem "Trust and Safety"-Team von Snapchat.

(Foto: Alicia Windzio/dpa)

Millionen Minderjährige nutzen Snapchat. Recherchen und ein Selbstexperiment von Stern und RTL zeigen: Dort können sie gefährlich schnell zu Opfern sexueller Gewalt werden.

Am Stadtrand von Casablanca sitzt ein Mann, der hier Mohammed heißen soll, auf seinem Sofa vor einem Laptop und blickt auf Videos halb nackter Kinder. Manchmal sieht er auch, wie Menschen auf andere einschlagen. Oder mit Waffen herumfuchteln. Schwer auszuhalten, aber Mohammed ist abgehärtet, das ist sein Job. Drei Euro die Stunde bekommt der junge Mann aus Marokko dafür, dass er sich Aufnahmen von Grausamkeiten ansieht.

Mohammed ist ein sogenannter Moderator bei der Social-Media-Plattform Snapchat. Wie die meisten seiner Kollegen ist er angestellt bei einem Subunternehmen. Er entscheidet, was in der App zu sehen ist - und was nicht. Rund 400 Inhalte prüft er pro Schicht, 400 Entscheidungen muss er treffen: Was verstößt gegen die Richtlinien, was ist gerade noch erlaubt? Mohammed sagt, dass manche Kollegen schon nach wenigen Wochen wieder kündigten, weil sie es nicht aushielten.

Nur eines ist schlimmer als die Videos und Bilder, die Mohammed und seine Kollegen sehen: die Videos und Bilder, die sie nicht sehen.

Snapchat ist ein Social-Media-Gigant, der Konzern erwirtschaftet jedes Jahr Milliardenumsätze. Unter den insgesamt mehr als 900 Millionen aktiven Nutzern ist ein beträchtlicher Teil minderjährig. Die Plattform ist damit populär geworden, dass ihre Nutzer Bilder und Videos verschicken können, die nach wenigen Sekunden wieder verschwinden. Dabei kann man sein Gesicht mit Filtern verzieren, mit Clownsmasken oder verrückten Frisuren. Das ist die spaßige Seite der App.

20.000 Fälle von Cybergrooming

Dann ist da noch die dunkle Seite. Auf vielen Social-Media-Plattformen werden Kinder zunehmend sexuell belästigt, erpresst und erniedrigt. Doch nirgends ist das Problem offenbar so groß wie bei Snapchat. Die Plattform protokollierte allein im ersten Halbjahr 2024 etwa 20.000 Fälle von Cybergrooming, also der sexuellen Manipulation von Minderjährigen über das Internet - mehr als bei Instagram, Tiktok und Co. zusammen.

Wie kann das sein? Stern und RTL sprachen für ihre Recherche mit Snapchat-Insidern, Content-Moderatoren, Experten für Internetkriminalität. Die Reporter konnten außerdem zahlreiche Dokumente einsehen. Am Ende steht das unrühmliche Bild eines Tech-Riesen, der sich der Gefahr für Kinder und Jugendliche durchaus bewusst ist - und trotzdem nicht genug dagegen zu unternehmen scheint.

Missbrauchs-Handbuch kursiert im Internet

Wie bedroht Kinder bei Snapchat sind, zeigt ein Fall aus den USA, der bis nach Deutschland reichen könnte. Vor etwa drei Jahren tauchte ein PDF auf einer Website auf. Das Dokument ist verfasst in Englisch, 117 Seiten lang, es trägt einen Titel, der übersetzt lautet: "Handbuch für sexuelle Erpressung - ein umfassender Leitfaden für Täter". Snapchat wird in dem Dokument mehr als 200-mal erwähnt. So häufig wie kein anderer Social-Media-Dienst.

Das Handbuch liefert eine akribische Anleitung für den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen - und dafür, wie man straffrei davonkommt. Der Autor erklärt unter anderem Schritt für Schritt, wie Täter sich eine falsche Identität bei Snapchat anlegen können. Wie sie Mädchen und Jungen so manipulieren, dass sie ihnen Nacktaufnahmen schicken. Wie sie Minderjährige damit erpressen können. Und wie sie ihre Opfer am gründlichsten erniedrigen. Etwa mit Befehlen wie: "Pinkle auf den Boden und lecke es auf wie ein Hund."

Das Handbuch liest sich wie eine Vorlage für den jüngst publik gewordenen Fall "White Tiger", bei dem ein 20-jähriger Hamburger über das Internet mutmaßlich Minderjährige gefügig machte, sie grausam misshandelte und Ermittlern zufolge eines seiner Opfer bis in den Suizid getrieben haben soll. Es gibt Hinweise auf direkte Verbindungen zwischen dem Hamburger und dem Verfasser des Handbuchs.

Es dauerte mehrere Jahre, bis Behörden das Handbuch aus dem Netz entfernen ließen und den mutmaßlichen Verfasser festnahmen. In seinem PDF schreibt der Täter, er selbst habe mehr als 5000 minderjährige Opfer sexuell erniedrigt, ausgebeutet und manipuliert. Die Zahl lässt sich nicht unabhängig überprüfen, aber Fachleute halten sie für realistisch.

"Snapchat ist ein Nährboden für Sexualstraftäter"

Die amerikanische Organisation NCMEC berichtet von "mehr als drei Dutzend" Teenagern weltweit, die sich seit 2021 selbst getötet haben, weil sie Opfer von "Sextortion" geworden waren, also jener Form von Erpressung, die das Handbuch geradezu bewirbt. Die Dunkelziffer dürfte noch einmal höher liegen.

Im US-Bundesstaat New Mexico wurde Snapchat kürzlich vom Generalstaatsanwalt verklagt. Die Klageschrift liegt Stern und RTL vor. Auf 164 Seiten listet der Chefankläger bis ins Detail auf, was bei der Plattform mutmaßlich im Argen liegt. Er stützt sich auf interne Mails und Aussagen von Snapchat-Mitarbeitern. In der Klage heißt es übersetzt: "Snapchat gehört zu den schädlichsten Verbreitern von Fotos und Videos von Kindesmissbrauch. Nahezu jeder Aspekt des Dienstes wurde darauf ausgelegt, junge Menschen anzulocken und süchtig zu machen. Das Design und der Algorithmus von Snapchat fördern (...) offen illegales, sexuelles Material von Kindern, Drogen und Waffen." Die App bringe Kinder und Sexualstraftäter zusammen, so ein Vorwurf. Snapchat versuchte bereits, die Klage abzuschmettern, scheiterte aber bislang.

Jagd auf Pädophile

Die US-Ankläger prangern unter anderem an, dass die App zwar erst ab 13 Jahren erlaubt sei, eine verlässliche Alterskontrolle aber nicht stattfinde. Zudem sei unzureichend, was die App unternehme, sobald Inhalte gemeldet werden, die gegen ihre Richtlinien verstoßen. Bis zu 90 Prozent aller Meldungen von Fotos und Videos blieben seitens Snapchat unbearbeitet, wie ein interner Mailwechsel von Mitarbeitern zeige. Das führe etwa dazu, dass sogar ein Account, gegen den 75 Meldungen vorlagen, nicht gelöscht wurde. Und werde ein Account doch einmal gesperrt, könne ein Täter einen neuen erstellen.

Auf Anfrage teilt Snapchat mit, das Unternehmen "arbeitet intensiv daran", jede sexuelle Ausbeutung junger Menschen "zu verhindern und den Strafverfolgungsbehörden zu melden". Man passe seine Sicherheitsstrategien "unermüdlich" an, investiere in Technologie und bemühe sich, Inhalte, die gegen die Community-Richtlinien verstoßen würden, "schnell zu identifizieren und zu entfernen". Meldungen würden direkt an Snapchats Sicherheitsteams gehen. "Diese arbeiten rund um die Uhr." Inhalte würden entfernt und Konten deaktiviert werden. Außerdem prüfe das Unternehmen fortlaufend neue Möglichkeiten der Altersprüfung, heißt es in der Stellungnahme von Snapchat.

Hilfe bei Cybergrooming

An diese Hilfsangebote können sich Eltern oder Kinder wenden:

N.I.N.A. e. V., Hilfetelefon sexueller Missbrauch: 0800 / 22 555 30 – Beratung von Betroffenen und Helfenden
Nummer gegen Kummer Kinder- und Jugendtelefon: 116 111
Nummer gegen Kummer Elterntelefon: 0800 / 110 550
Weißer Ring: Opfertelefon 116 006 – Beratung online, telefonisch und vor Ort
Jugendnotmail: Onlineberatung in Krisensituationen
Hilfeportal sexueller Missbrauch: Onlinesuche nach Beratungsstellen in der Nähe

Doch trotz der Angaben des Unternehmens berichteten US-Ermittler, die sich auf Snapchat als Minderjährige ausgaben, wie schnell sie von Erwachsenen angeschrieben worden seien. "Snapchat ist ein Nährboden für Sexualstraftäter", heißt es in der Klage.

Statt der Täter werden Lockvögel gesperrt

Die Erkenntnisse aus den USA decken sich mit den Recherchen von Stern und RTL in Deutschland. In einem groß angelegten Experiment, testeten Reporter, wie leicht Kinder und Jugendliche bei Snapchat zu Opfern werden können.

Dazu bauten sie in einem Fernsehstudio zwei Kinderzimmer nach und setzten zwei Schauspielerinnen als Lockvögel ein, die sich mit gefälschten Profilen als zwölfjährige Mädchen ausgaben. Schon nach kürzester Zeit meldeten sich die ersten Männer bei ihnen. Die Sendung "Angriff auf unsere Kinder" läuft am Donnerstag, 11.9.2025, um 20.15 Uhr auf RTL.

Das Experiment zeigte, wie taktisch und manipulativ manche Täter im Netz handeln. Einer von ihnen löschte etwa Nachrichten sofort nach dem Lesen, rief mehrmals per Videotelefonat an und fragte, ob die vermeintlich Zwölfjährige allein sei. Seine Worte wählte er offenbar mit Bedacht: Aus "Penis" wurde "willst du P. sehen".

Das Experiment zeigte auch, wie schamlos Täter bei Snapchat mitunter vorgehen. So begann ein über 50 Jahre alter Mann bereits nach kurzer Zeit, der vermeintlich Zwölfjährigen Bilder seines Penis zu schicken. In einem Video-Anruf masturbierte der Mann vor der Kamera. Außerdem fragte er nach Kontakt zur fiktiven Schwester des Lockvogels. Einer Achtjährigen.

Die Reporter meldeten alle Fälle, auf die sie während des Experiments stießen. Doch Snapchat sperrte keinen der Nutzer. Stattdessen wurde der Account des Lockvogels gesperrt: Sie sei zu jung für die App. Ein Großteil der Nutzer war auch Wochen später noch online aktiv.

Snapchat äußert sich auf Nachfrage nicht konkret dazu, wieso die Fälle nach der Meldung nicht weiter geahndet wurden. Nach einer offiziellen Presseanfrage teilte das Unternehmen mit, man habe die aufgeführten Accounts jedoch überprüft und gehandelt, wo es Verstöße gegen die Richtlinien und Nutzungsbedingungen gegeben habe.

Kostendruck vs. Sicherheit

Dass Snapchat nicht mehr für die Sicherheit seiner minderjährigen Nutzer tut, könnte laut einem Insider damit zusammenhängen, dass das Unternehmen angeblich noch nie Gewinn abgeworfen habe.

Ein ehemaliger Mitarbeiter des "Trust and Safety"-Teams von Snapchat, der viele Jahre dort arbeitete und anonym bleiben will, berichtet stern und RTL davon, wie das Unternehmen immer wieder Vorschläge zur Verbesserung von Sicherheitskonzepten abgeschmettert habe. Auch der Wunsch nach einer Aufstockung der Mitarbeiter im Bereich "Trust and Safety" sei nicht erfüllt worden. Im Gegenteil. "Zu der Zeit, als ich noch da war, lief das Geschäft von Snapchat nicht besonders gut. Das Unternehmen verdiente kein Geld, da war es eine Herausforderung, Geld für neue Tools auszugeben", sagt der Mann.

Auch die Zahl der Mitarbeiter im "Trust and Safety"-Team schrumpfte in den vergangenen Jahren deutlich, von 3051 im Jahr 2021 auf 2226 im Jahr 2023. Mittlerweile, sagt der Ex-Mitarbeiter, seien zwar einige Sicherheitstools eingeführt worden, die er und sein Team damals nicht durchbekommen hätten. Er sagt aber auch: "Ich würde meinen Kindern nicht erlauben, Snapchat allein zu nutzen, bevor sie deutlich älter als 13 Jahre alt sind."

"Das hätte entfernt werden müssen"

Auf seinem Sofa in Marokko erzählt der Snapchat-Moderator Mohammed, dass Bilder und Videos, die er als problematisch kennzeichne, sofort gelöscht würden. Als die Reporter ihm ein Video vorspielen, das zwei Mädchen zeigt, die auf einem Bett herumspielen, unterbricht er den Clip.

Eines der beiden Mädchen hat gerade kurz sein T-Shirt hochgezogen. Beide sehen aus, als seien sie unter 13 Jahre alt. "Das hätte auf jeden Fall entfernt werden müssen", sagt Mohammed.

Aber das wurde es nicht. Dabei stammt das Video nicht einmal aus einem Privatchat, sondern aus dem öffentlich zugänglichen Bereich der App. Zu dem Zeitpunkt wurde das Video bereits über 100.000-mal angesehen.

Dieser Text erschien zuerst auf stern.de.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen