Überleben für AnfängerWie realistisch ist "The Revenant"?

Leonardo di Caprio ist im Survivalmovie "The Revenant" echt nicht zu beneiden: Blutrünstige Bären, mordsüchtige Indianer und verräterische Freunde wollen dem Trapper ans Leder. Dass die Natur schon ausreicht, um uns an den Rand der Verzweiflung zu bringen, finden wir im Feldtest heraus.
Es sieht gar nicht gut aus für Hugh Glass: Der bärtige Trapper ist nicht nur halb erfroren und fast verhungert, sondern liegt auch noch schwer verwundet und so gut wie bewegungsunfähig in den endlosen Weiten des Mittleren Westens herum, während sein eigener Körper unter ihm wegfault. Am übelsten spielt Glass allerdings das gewaltige Loch in der Kehle mit, aus dem ihm das lebensspendende Wasser des nahen Flusses sickert, kaum dass er es getrunken hat. Gut, dass der Überlebenskünstler noch Schießpulver und eine Gabel dabeihat: Zusammen mit einem Büschel Gras bastelt Glass in Windeseile ein Feuerchen zusammen und versiegelt die Wunde mit dem restlichen Pulver und einem zünftigen Knall. Wieder einmal ist Glass dem Tod knapp von der Schippe gesprungen - nicht zum letzten Mal im Film "The Revenant", der gerade auf DVD erschienen ist.
156 Minuten lang schleppt sich Leonardo di Caprio in dem dreifach Oscar-prämierten Streifen durch die amerikanische Wildnis und fällt buchstäblich von einer lebensbedrohlichen Situation in die nächste. Obwohl der Film auf einer wahren Begebenheit beruht, fragt man sich als Zuschauer nicht nur einmal, ob das denn bitteschön wirklich alles so möglich ist, wie "The Revenant" es zeigt. "Ganz klar ja, der Film orientiert sich eng an realen Überlebenstechniken", ist Joe Vogel überzeugt - und der Mann muss es wissen: Als einer der renommiertesten Survivalexperten Deutschlands schlägt sich Vogel schon seit seiner Kindheit durch die Wildnis vor unserer Haustür, ist Autor mehrerer Überlebensratgeber und lässt sich schon mal ohne Ausrüstung im australischen Outback aussetzen, um zu beweisen, dass seine Strategien mehr sind als bloße Theorie.
Jede Menge Survival-Lektionen
Nun also soll Vogel gemeinsam mit einer zusammengewürfelten Truppe aus absoluten Wildnislaien - oder kurz gesagt: uns - den Realismusgrad von "The Revenant" auf Herz und Nieren prüfen. Das Szenario ist denkbar einfach: "Stellt euch mal vor, ihr brecht euch auf einer 50 Kilometer langen Wanderung mitten in der Wildnis das Bein. Keiner weiß, dass ihr hier seid, irgendwie müsst ihr es lebend zurück in die Zivilisation schaffen." Um die Verletzung zu simulieren, fixiert Vogel eines unserer Beine mit einem langen Stock und stellt uns unsere erste Aufgabe: Wir sollen Feuer machen, ganz ohne Spiritus, Zeitungspapier, Feuerzeug und Streichhölzer.
Wir humpeln los und sammeln, was wir finden können: Aus dünnsten Ästchen bauen wir ein Tipi im Miniaturformat, fingerdicke Äste verstärken das Ganze von außen, ein wenig Stroh bildet das Dach. Wäre heute ein trockener Tag, könnten wir uns bequem aus etwas Gras ein kleines Feuernest bauen - ist es aber nicht, konstanter Nieselregen macht uns einen Strich durch die Rechnung. "Macht aber gar nichts", sagt Vogel und fängt an, die wolligen Samen der überall herumstehenden Goldruten zu pflücken und sich unter die Jacke zu stopfen: "Leicht angetrocknet werden die unser Feuer entfachen."
Nach einer gefühlten Ewigkeit und unter dem ständigen Hintergrundgeräusch knurrender Bäuche sind wir dann bereit, das Feuer zu entzünden - nicht wie im Film mit Schießpulver, ("das wäre ja zu einfach") sondern ganz klassisch mit einem Feuerstein, einem Taschenmesser (oder ähnlichem Stahl) und etwas Zunder, gewonnen aus einem Baumpilz und Eigenurin. Erste Survival-Lektion: Wer überleben will, darf nicht zimperlich sein. Dass die zweite direkt auf dem Fuße folgt, strapaziert unsere unterzuckerten Nerven noch mehr: Wer überleben will, braucht Geduld. Stahl gegen Stein schlagen und einen Funken machen, der auf dem Zunder liegenbleibt, klingt ja eigentlich gar nicht so schwer - und sieht bei Joe Vogel auch absolut nicht danach aus. Bis bei uns allerdings die ersten Funken fliegen, vergeht gut und gerne eine halbe Stunde: Bis dahin sieht man lediglich eine Gruppe Menschen, die wie im Wahn Dinge aufeinanderschlagen und dabei grunzen.
Beruhigendes Zivilisationsrauschen
Irgendwann aber, viel, viel später, brennt es dann tatsächlich doch, unser Feuer - und wir sind wahnsinnig stolz und gleichzeitig so hungrig, dass wir uns nach kurzem Aufstöhnen eifrig daran machen, unser Mittagessen zu rupfen und auszunehmen: männliche Eintagsküken, die in der industriellen Geflügelhaltung als Abfall gelten und kurz nach ihrer Geburt zu Millionen getötet werden. Vogel simuliert mit den winzigen Dingern die Nahrung, die wir in einem echten Notfall zu dieser Jahreszeit im Überfluss finden würden und auf die wir nun zum Glück verzichten: Singvogelküken, geraubt aus ihren Nestern.
Wieder eine gute halbe Stunde später sind die kleinen Vögel knusprig braun, nach drei schnellen Bissen auch schon wieder verschwunden und die nächste Lektion ist gelernt: Wer so viel Liebe in die Vorbereitung einer Mahlzeit gesteckt hat, braucht kein Salz. Dass das allerdings nur für Geflügel zu gelten scheint, lernen wir später: Aus toten Ästen gepulte Engerlinge schmecken auch nach intensiver Vorbehandlung in etwa so, wie man sich den Genuss von Schmetterlingslarven eben vorstellt.
Unsere proteinreichen Hauptgänge ergänzen wir mit einem bunten Sammelsurium an Wildkräutern, die praktischerweise so gut wie überall um uns herum wachsen - und merken plötzlich, wie der Nieselregen aus einem immer dunkler werdenden Himmel fällt. Wir waren tatsächlich fast den ganzen Tag damit beschäftigt, uns ein paar mickrige Kalorien zu beschaffen und haben uns dabei kaum von der Stelle bewegt. Mit dem beruhigenden Zivilisationsrauschen der fernen Bundesstraße im Hintergrund mummeln wir uns unter freiem Himmel in unsere Schlafsäcke ein. Obwohl wir nur einen Bruchteil von dem zu sehen bekommen haben, was Hugh Glass durchmachen musste, beginnen wir zu verstehen, was es heißt, verletzt in der Wildnis zu stranden, völlig auf sich allein gestellt.
Kurz bevor mir die Augen zufallen, muss ich an den Grund für Glass' Verletzungen denken: der brutale Kampf mit dem Bären, der den Trapper vier Minuten lang regelrecht zerfleischt. Was wir wohl in der Lage des Trapper gemacht hätten, denke ich noch und erinnere mich dann daran, was Vogel Stunden vorher über den Umgang mit den pelzigen Raubtieren gesagt hat: "Bären haben Angst vor Menschen und fürchten laute Geräusche". Gut, dass von drüben bereits beruhigend laut Traumholz gesägt wird.
Die Reisekosten wurden vom Filmverleih übernommen.