Panorama

Modellierer Lehr warnt bei ntv "Wir sehen eine relativ starke Wand kommen"

Diese Grafik zeigt die Berechnungen von Thorsten Lehr. Die rote Linie zeigt den Pandemieverlauf für den Fall, dass keine Kontaktreduktion stattfindet. Die blaue Linie zeigt nur einen kleinen Omikron-Effekt, setzt aber eine 50-prozentige Kontaktreduktion voraus.

Diese Grafik zeigt die Berechnungen von Thorsten Lehr. Die rote Linie zeigt den Pandemieverlauf für den Fall, dass keine Kontaktreduktion stattfindet. Die blaue Linie zeigt nur einen kleinen Omikron-Effekt, setzt aber eine 50-prozentige Kontaktreduktion voraus.

(Foto: Thorsten Lehr)

Corona-Modellierer Thorsten Lehr kritisiert die vorgesehenen Verschärfungen: "Ich halte sie für absolut nicht ausreichend", sagt er. In einem Modell für ntv zeigt er auf, was Deutschland bevorstehen könnte. Demnach drohen bei einer ungebremsten Omikron-Welle bis zu sechs Millionen zeitgleich Infizierte.

ntv: Momentan sinkt die Inzidenz, trotzdem könnte die Omikron-Variante bald die fünfte Welle auslösen. Sie berechnen mit Modellen, wie es mit den Corona-Infektionen weitergehen kann. Was für Szenarien gibt es da genau für den Jahreswechsel?

Thorsten Lehr: Momentan gehen wir davon aus, dass die Omikron-Variante jetzt deutlich an Fahrt gewinnen wird und wir auch eine Trendwende bei der abfallenden Inzidenz sehen werden. Wir gehen in unseren Berechnungen nicht davon aus, dass wir jetzt in den nächsten Tagen schon wieder einen Anstieg der Fallzahlen sehen werden. Das wird erst langsam gehen, aber dann deutlich zunehmen. Wenn nichts passiert und wenn sich auch keine Verhaltensänderung einstellt, gehen wir davon aus, dass wir Anfang des Jahres sogar wieder bei Inzidenzen von um die 1000 liegen können. Das liegt sehr stark daran, wie sich die Bevölkerung verhält und welche Maßnahmen wir ergreifen. Aber da sehen wir wirklich eine relativ starke Wand auf uns zukommen.

Wenn wir jetzt die Reißleine ziehen würden, bei was für Inzidenzen landen wir dann?

Das kommt natürlich darauf an, welche Maßnahmen wir ergreifen. Nach unseren Berechnungen bräuchten wir, damit wir diesen steilen Anstieg nicht haben, eigentlich eine Kontaktreduktion von um die 50 Prozent. Das wäre eine relativ massive Kontaktreduktion, ähnlich wie wir sie auch beim Lockdown hatten. Dann würden wir ungefähr bei 500 bis 600 landen. Das wären in etwa die Zahlen, wie wir sie auch vor den 2G/3G-Reduktionen hatten. Das wäre also sicherlich ein Niveau, mit dem wir irgendwie überleben können.

Wie würde sich das denn auch auf das Gesundheitssystem auswirken, wenn wir so weitermachen wie momentan?

Da gibt es natürlich zwei Dinge, die man betrachten muss. Das eine ist sicherlich, dass die Intensivstationen sowieso schon am Kapazitätslimit sind. Wir wissen bei Omikron momentan noch nicht, wie schwer die Verläufe sind. Aber wenn wir jetzt davon ausgehen, dass Patienten nur etwas leichtere Verläufe haben, dürfte es trotzdem noch zu einem relativ starken Anstieg auf den Intensivstationen kommen. Dort werden Kapazitätsgrenzen also möglicherweise erreicht. Sollten auf der anderen Seite aber auch die Verläufe milder sein, dann kann es sein, dass auch die Regierung höhere Inzidenzen zulassen wird. Und das würde bedeuten, dass auf einen Schlag relativ viele Bürgerinnen und Bürger auch erkranken würden. Und dann hätten wir das andere potenzielle Problem, dass dann Menschen in wirklich systemrelevanten Berufen auch erkranken würden, also BusfahrerInnen, ÄrztInnen, PflegerInnen und Ähnliches. Dann können wir wirklich ein Problem mit der Infrastruktur bekommen.

Machen Sie sich wirklich Sorgen, dass das eintreten könnte?

Ja, wir haben das auch mal versucht hochzurechnen und da kann es schon passieren, dass man teilweise bis zu 5 oder 6 Millionen gleichzeitig Erkrankte hat, und das könnte natürlich auch für massive Probleme an verschiedenen Ecken wie der Versorgung im Gesundheitssektor, aber auch im öffentlichen Leben führen.

Das RKI hat die Gefahr einer Ansteckung für doppelt Geimpfte und Genesene mit Omikron als hoch eingestuft. Wenn Sie aber auf andere Länder blicken, bei denen die Datenlage deutlich besser ist, was kann man daraus ableiten, um wie viel ansteckender ist Omikron als Delta?

Wir nutzen natürlich auch die Daten aus den anderen Ländern, um daraus Erkenntnisse abzuleiten, und da sieht man, dass sie ungefähr zwei- bis zweieinhalbfach ansteckender ist als Delta. Da hätten wir R-Werte, die weit über 10 liegen würden, wenn wir nichts machen würden. Das ist natürlich sehr massiv. Das erklärt auch den steilen Anstieg, den wir in Dänemark und England sehen. Und genau deshalb sind jetzt wirklich harte Maßnahmen nötig. Das Problem ist wirklich, wenn wir zu spät und erst reagieren, wenn die Fallzahlen oben sind, dann haben wir schon so viele Fälle generiert, dass wir da gar nicht mehr richtig entgegensteuern können. Hier ist Prävention wirklich die Maßnahme der Stunde, die es zu ergreifen gilt.

Die im Entwurf zur Ministerpräsidentenkonferenz genannten Maßnahmen, beispielsweise Kontaktbeschränkungen auch für Geimpfte und die Schließung von Clubs - reicht das?

Was bisher auf dem Tisch liegt, sieht ehrlich gesagt nicht danach aus, als würde es reichen. Es sieht nach einer gewissen Augenwischerei aus, die über Weihnachten jetzt vielleicht die Leute noch mal beruhigen soll. Aber ich halte sie für absolut nicht ausreichend. Die Kontakte sollen auf 10 jetzt reduziert werden, und wir wissen von Omikron schon, dass sich die Variante innerhalb eines Haushalts doppelt so stark ausbreitet wie die Delta-Variante. Das heißt, wenn Sie eine Infektion bei einem Treffen in einem Haushalt haben, haben Sie bis zu 80 Prozent derjenigen Infiziert, die sich dort auch befinden. Das heißt, Sie haben ein ganz anderes Spiel, als wir es letztes Jahr zu Weihnachten noch hatten mit dem Wildtyp.

Was müsste man stattdessen machen, damit wir nicht bei einer Inzidenz um den Jahreswechsel von über 1000 landen könnten?

Es kommt darauf an, wie viele Kontakte wir haben. Das Virus kann sich nur verbreiten, wenn es auf neue Menschen trifft, die noch nicht infiziert sind, die braucht es als Futter. Und wenn wir das reduzieren, entziehen wir damit auch dem Virus die Nahrung. Aber auch das Lüften wird ganz wichtig sein in den Innenräumen. Also ich denke, die klassischen Regeln, die wir schon immer beherzigt haben, müssen wir jetzt einfach wieder rausholen. Wir bräuchten jetzt, wie gesagt, einfach eine massive Kontaktreduktion. Das Problem ist, dass wir die eigentlich auch über den Jahreswechsel hinaus brauchen, da wir im Moment noch nicht wissen, wie gut die Booster-Impfung wirklich wirkt, um die Ausbreitung einzudämmen. Meiner Einschätzung nach werden wir diese Kontaktreduktion auch deutlich länger fahren müssen, möglicherweise auch noch in den Februar rein.

Reicht es da wirklich, an die Vernunft der Menschen zu appellieren? Oder braucht es da klare politische Vorgaben, noch mal einen kompletten Lockdown?

Ich glaube, dass viele in der Bevölkerung sich extrem vernünftig verhalten haben. Das ist schon so. Ich muss da wirklich der Bevölkerung auch gratulieren, dass sie sich sehr gut verhalten hat. Das Problem ist aber: Die Vernunft ist immer davon getrieben, was die Politik vorgibt. Das heißt, geben Sie vor, dass sich 10 Personen treffen können, wird die Bevölkerung das ausnutzen, weil sie davon ausgeht, dass das sicher ist. Das Virus guckt sich aber nicht erst die Corona-Verordnung an, überlegt sich dann, ob das jetzt eine sichere oder unsichere Veranstaltung ist, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass eine Übertragung stattfindet, steigt mit der Anzahl der Kontakte. Deswegen ist die Vernunft nicht ganz ausreichend, weil viele Bürgerinnen und Bürger dieses Risiko nicht richtig einschätzen können. Es bedarf meiner Meinung nach hier auch wirklich klarer Appelle und klarer Kommunikation. An der mangelt es wirklich momentan an allen Ecken und Enden.

Mit Thorsten Lehr sprach Nele Balgo

Quelle: ntv.de

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