Interview zu Gesundheitsämtern "Wir sind nicht gut gerüstet"
18.08.2020, 17:17 Uhr
Durch steigende Fallzahlen und mehr Kontakte der einzelnen Infizierten kommt immer mehr Arbeit auf die Gesundheitsämter zu.
(Foto: picture alliance/dpa)
In Bayern haben rund 1000 positiv Getestete lange Zeit nichts von ihrer Corona-Infektion erfahren. Wie überfordert sind die Gesundheitsämter in Deutschland? Der Personalaufbau komme zu spät, warnt Ute Teichert, Chefin des Verbands der Öffentlichen Gesundheitsdienste im ntv-Interview.
ntv.de: 46 Infizierte, in Bayern getestet, wussten gestern immer noch nicht von ihrer Ansteckung. Es hieß, man habe "Zigtausende" Dokumente sichten müssen. Anders gesagt: Vieles scheint noch immer auf Papier zu sein. Steckt Deuschland bei der Covid-Bekämpfung technisch in den 70ern?
Ute Teichert: Diese Situation wäre vermeidbar gewesen. Die Gesundheitsämter müssten die Daten der Reiserückkehrer direkt mit einem mobilen digitalen System erfassen können. Ein solches System steht auch zur Verfügung. Es heißt Sormas, wird zurzeit weiterentwickelt mit Förderung vom Gesundheitsministerium und auf freiwilliger Basis in Gesundheitsämtern implementiert. In Nigeria ist Sormas schon seit 2014 im Einsatz.
Wenn die Technik schon nicht auf einem guten Stand ist, sind die Ämter wenigstens mit Personal gut ausgestattet?

Als Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes warnt Ute Teichert davor, die Gesundheitsämter mit der Herausforderung Corona allein zu lassen.
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Kurzfristig weder, noch. Zumal wir ja nicht mehr im Lockdown sind. Das heißt, diejenigen, die sich jetzt mit Sars-CoV-2 infizieren, haben zuvor nahezu normal gelebt und zu viel mehr Menschen Kontakt gehabt als die Infizierten im Mai. Wenn ich nicht mehr Kontaktlisten mit 5 Personen abarbeiten muss, sondern 30 bis 50 Kontakte auf der Liste habe, brauchen die Gesundheitsämter viel mehr Zeit dafür als während des Lockdowns.
Es sollte doch Personal aufgestockt werden.
Da ist aber bislang noch wenig konkret passiert. Es gibt schon einzelne Kommunen oder Städte, die erkannt haben, dass sie Personal brauchen und einzelne Stellen eingerichtet haben. Aber alles, was an Personalaufstockung vorgesehen ist, auch über den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst, ist im Planungsstadium. Die Umsetzung ist für fünf Jahre angelegt und wird noch dauern. Sie wird auf jeden Fall zu spät kommen, wenn jetzt die Zahlen weiter so steigen.
Wie blicken Sie vor diesem Hintergrund auf die steigenden Fallzahlen?
Ich kann nur sagen: Die Gesundheitsämter sind dafür nicht ausgerüstet. Weder digital noch personell. In den letzten Wochen haben wir uns in Deutschland sehr auf die Frage konzentriert, wie wir in die Lockerungsphase gehen. Völlig übersehen haben wir, dass dieses Virus nicht weg ist.
Geht diese Kritik an Städte und Kommunen oder an Gesundheitsminister Jens Spahn?
Momentan werden von der Politik sehr schnell neue Aufgaben kreiert - innerhalb von 24 Stunden neue Teststationen aufbauen, als Beispiel. Davon haben die Gesundheitsämter zum Teil erst aus den Medien erfahren. Letztlich müssen alle Beteiligten ran. Die Kommunen und Städte müssen vor Ort gucken, dass sie Stellen ausschreiben und vor allem die Leute vernünftig bezahlen. Aber wenn Bund und Länder neue Aufgaben schaffen, muss man auch bedenken, dass die Infrastruktur löchrig ist, und das schon seit Jahren.
Wird das öffentlich nicht genug wahrgenommen?
Einen Aufschrei der Ämter hat es gegeben, als der Deutsche Städtetag und der Landkreistag offiziell mitgeteilt haben, der Öffentliche Gesundheitsdienst sei ausreichend ausgestattet und man müsse da nichts machen. Das haben viele Mitarbeiter als Ohrfeige empfunden. Ich habe in den letzten Wochen von etlichen Gesundheitsämtern gehört, bei denen die Amtsleitung weggegangen ist oder es andere Personalveränderungen gegeben hat. Das sind, so fürchte ich, erste Anzeichen, dass die Stimmung sich verschlechtert. Die Menschen sind einfach ausgelaugt, haben enorm Überstunden gemacht, am Wochenende gearbeitet, zum Teil rund um die Uhr. Wenn dann gesagt wird, dass keine zusätzlichen Mittel notwendig sind, kommt natürlich Frust auf.
Im Frühjahr hatten Sie viele freiwillige Helfer. Wäre das für die nächsten Wochen auch eine Option?
Der große Vorteil im Frühjahr war, dass viele Menschen durch den Lockdown nicht arbeiten konnten und dadurch Zeit hatten, sich bei uns einzusetzen. Das wird schwierig, wenn wir das öffentliche Leben aufrechterhalten. Trotzdem glaube ich, dass es genug Menschen gibt, die bereit wären auszuhelfen, wenn sie dafür auch bezahlt werden. Es melden sich auch jetzt schon wieder Leute bei mir. Das müsste aber gesteuert und geregelt werden.
Wie am besten?
Das könnte man mit geringen Mitteln hinkriegen: Wir sollten eine zentrale Plattform aufbauen, wo Freiwillige sich registrieren können, ihre Qualifikationen angeben, ihre Verfügbarkeit. Dann müsste man in Personal investieren, um diese Plattform zu managen. Wenn man das Ganze etwas größer denkt, könnte man auch regeln, wer welche Schulungen für die Aufgaben bekommt. Und wenn in einem Landkreis Bedarf ist, könnte man schauen: Wer hat sich vielleicht aus dem Nachbarkreis gemeldet? Welche Qualifikationen werden gebraucht? Das schaffen Sie nicht mit lauter kleinen Lösungen vor Ort.
Hilft die Corona-Warn-App den Gesundheitsämtern?
Die App ist keine Hilfe für die Gesundheitsämter, sie war aber auch nie als solche gedacht. Es gibt gar keine Schnittstelle von der App zu den Ämtern, und das war auch so gewollt aus Datenschutzgründen. Die App hat null Austausch mit den Gesundheitsämtern, der Austausch passiert nur zwischen den Handys.
Nehmen wir mal an, ich werde im Labor positiv getestet, dann bekomme ich aber doch den QR-Code auf die App geschickt.
Genau, und dann können Sie entscheiden, ob Sie Ihre Kontakte per App informieren wollen. Aber Sie bekommen trotzdem einige Zeit später einen Anruf vom Gesundheitsamt und wundern sich dann, warum sich das Amt jetzt erst meldet. Aber das Amt bekommt Ihren Fall eben nicht über die App, sondern über den normalen Meldeweg. Und dann muss das Amt die Kontaktverfolgung starten, und dazu müssen Sie Ihre Kontakte angeben. Denn weder Sie selbst wissen, wen Ihre App schon alarmiert hat, noch das Gesundheitsamt weiß es. Das läuft komplett unabhängig voneinander.
Es wird ja viel stärker als im Frühjahr über die Corona-Schutzmaßnahmen diskutiert. Was ist sinnvoll, was ist nötig, was ist zumutbar? Bis hin zu Leuten, die das Virus für eine Erfindung halten. Spiegelt sich die Debatte wider, wenn die Ämter bei Infizierten anrufen? Verweigern Leute ihre Mithilfe?
Solche Situationen gab es von Anfang an. Das bestehende Infektionsschutzgesetz gibt uns hier aber weitreichende Befugnisse. Wir können Bußgelder verhängen, die Leute können auch bestraft werden. Man ist verpflichtet, im Sinne der Gesundheit mitzuhelfen. Wir können auch das Wohnrecht einschränken, das Aufenthaltsrecht, Fernmeldewesen. Das war schon immer möglich.
Müssen Sie inzwischen häufiger zu solchen Mitteln greifen?
Nein, da hat sich nichts geändert. Die Mitarbeit von Infizierten funktioniert nach wie vor gut. Ich empfinde eher ein Problem in der gesamten Gesellschaft: Wir suchen gerade nach einem Weg, mit dem Virus noch eine Weile zu leben. Aber viele haben die Haltung: Wir haben das im Frühjahr gut gemeistert, und jetzt möchten wir aber auch wieder wie gewohnt in Urlaub fahren. Oder jetzt möchten wir unsere Fußballspiele mit Zuschauern wieder haben. Das ist riskant. Ich fahre gerade Zug und habe mich schon zum dritten Mal umgesetzt, weil die anderen Fahrgäste mir so nah auf die Pelle rücken. Dass die Zahlen wieder steigen, ist eigentlich klar gewesen. Man muss jetzt immer wieder an die Menschen appellieren, damit sie die Verhaltensregeln wirklich einhalten.
Tauschen Sie sich über diese Themen mit Herrn Spahn aus?
Der Kontakt zu Herrn Spahn ist gut, allerdings arbeitet der auch sehr schnell. Er hat ein hohes Arbeitstempo, da kommen manchmal so schnell die neuen Anforderungen, dass man wirklich hinterherrennen muss. Da werden wir auch nicht immer gefragt. Aber grundsätzlich haben wir einen guten Austausch mit dem Gesundheitsministerium und stehen in ständigem Dialog. An Unterstützung für den Öffentlichen Gesundheitsdienst würde ich mir natürlich mehr wünschen, aber mehr als das immer wieder einzufordern, kann ich nicht tun.
Mit Ute Teichert sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de