Mutmaßlicher FSB-Analyst "Unser Blitzkrieg ist völlig zusammengebrochen"
07.03.2022, 15:33 Uhr
Eine kilometerlange russische Kolonne steckt vor Kiew fest.
(Foto: dpa)
Fehleinschätzungen und mangelnde Vorbereitung Russlands auf den Angriff auf die Ukraine geben Rätsel auf. Ein angeblicher Whistleblower des russischen Geheimdienstes FSB liefert eine Erklärung, wie es dazu kommen konnte.
Der russische Angriff auf die Ukraine läuft offensichtlich nicht so wie geplant. Sinnbild ist der kilometerlange Militär-Konvoi vor Kiew, der seit Tagen stillsteht. Zivilisten, die sich russischen Soldaten entgegenstellen, und verlassene russische Militärfahrzeuge unterstützen diesen Eindruck. Offensichtlich hat die russische Führung mit einem schnellen Sieg gerechnet - und den Widerstand der Ukrainer sowie die Härte der vom Westen verhängten Sanktionen völlig unterschätzt. Da stellt sich die Frage: Wie konnte es dazu kommen?
Eine Antwort könnte ein Brief geben, der im Internet kursiert und von einem Analysten stammen soll, der für den russischen Geheimdienst FSB arbeitet. Ob es sich tatsächlich um die Einschätzung eines Whistleblowers oder um eine Fälschung handelt, konnte ntv.de nicht überprüfen. Allerdings hält der Investigativreporter Christo Grozev den Brief für durchaus authentisch. Grozev ist leitender Russland-Ermittler der Rechercheplattform Bellingcat und hat zwei FSB-Kontaktleute um ihr Urteil gebeten. Sie hätten keinen Zweifel, dass der Brief von einem Kollegen stammt, sagt er.
Dem Analysten zufolge liegt die Hauptursache der russischen Probleme darin, dass sowohl Armee als auch die Administration nicht ausreichend auf den Angriff und die Folgen vorbereitet waren: "Niemand hat gewusst, dass es zu einem Krieg kommt - das wurde vor jedem geheim gehalten." Nun werde dem FSB vorgeworfen, schlechte Analysen abgeliefert zu haben. Doch die zuständigen Mitarbeiter seien von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen.
Das erläutert der mutmaßliche Whistleblower an einem Beispiel. Man werde gebeten, die Folgen eines Meteoriten-Einschlags auf Russland einzuschätzen. Zugleich werde einem aber zu verstehen gegeben, dass das alles rein hypothetisch sei und man sich nicht zu sehr mit Details aufhalten solle. Die zuständigen Analysten würden diese Aufforderung so verstehen: Ein Bürokrat brauche die Einschätzung, um eine To-do-Liste abzuhaken. Deshalb sollten die Ergebnisse auch positiv für Russland sein, weil man sonst wegen schlechter Arbeit zum Gespräch mit Vorgesetzten müsse. "Also musst du schreiben, dass wir alle notwendigen Mittel zur Verfügung haben, um die Auswirkungen dieser Art von Angriff zunichtezumachen."
Unerfüllbare Mission
Mit dem Meteoriten-Einschlag meint der mutmaßliche Analyst offensichtlich die von westlichen Staaten gegen Russland verhängten Sanktionen. "Doch dann stellt sich heraus, dass aus der Hypothese Wirklichkeit wird - und dass unsere Analysen völliger Müll sind. Deshalb haben wir keine Antwort auf die Sanktionen (...) Das ist die Kehrseite dieser Geheimhaltung: Wenn jeder im Dunkeln gelassen wird, bereitet sich niemand auf solche Sanktionen vor."
Ihm und seinen Kollegen sei gesagt worden, es gehe darum, die Bedrohung durch die Ukraine zu maximieren, heißt es weiter in dem Text. Aus dieser Position hätten dann Verhandlungen stattfinden sollen. "Wir waren bereits dabei, Proteste gegen Selenskyj vorzubereiten, ohne uns mit einer Invasion in die Ukraine zu befassen." Ihnen sei gesagt worden, dass es nur zu einer Invasion komme, wenn Russland zuerst angegriffen werde.
"Unser Blitzkrieg ist völlig zusammengebrochen", heißt es weiter. Es sei unmöglich, die gestellte Aufgabe zu erfüllen. Wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und seine Helfer in den ersten drei Tagen des Angriffs gefangen genommen und gezwungen worden wären, eine Kapitulation zu verlesen, wäre der ukrainische Widerstand wahrscheinlich zwar auf ein Minimum geschrumpft. "Aber was dann? Selbst bei diesem idealen Ergebnis wäre ein unlösbares Problem geblieben", so der Analyst. Selbst wenn es den Russen gelänge, eine neue Regierung zu installieren, "wäre sie innerhalb von zehn Minuten gestürzt, sobald wir das Land verlassen haben". Eine dauerhafte Besetzung der Ukraine könne Russland alleine schon wegen der großen Fläche des Landes nicht hinbekommen.
Hinzu komme, dass die Russen in der Ukraine mittlerweile verhasst seien. "Selbst wenn wir Selenskyj töten oder gefangen nehmen, wird sich nichts ändern. Das Ausmaß des Hasses gegen uns ist so groß wie in Tschetschenien", heißt es weiter. Die Zahl der zivilen Opfer werde zunehmen - und damit wachse auch der Widerstand der Ukrainer. "Der Feind ist motiviert. Fürchterlich motiviert. Er weiß, wie man kämpft. Viele fähige Kommandeure. Sie haben Waffen und Unterstützung", so der mutmaßliche Analyst.
"Jetzt stecken wir bis zum Hals in der Scheiße und wissen nicht, was wir tun sollen", heißt es weiter. "Unsere gegenwärtige Lage ist die von Deutschland 1943/1944 - und das ist unsere Ausgangsposition in der Ukraine." Nazideutschland hatte die Sowjetunion im Jahr 1941 überfallen, 1942/43 fand die Schlacht um Stalingrad statt, ein Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Bereits jetzt sei Russland dabei, alles zu mobilisieren, heißt es in der Analyse. "Aber wir können das nicht mehr lange durchhalten (...) Wir haben uns für einen 100-Meter-Sprint vorbereitet. Aber es stellt sich heraus, dass wir uns bei einem Marathon angemeldet haben."
Quelle: ntv.de