Politik

Ukrainerinnen auf der Flucht Aus der Geburtsklinik in den Zug nach Berlin

Ukrainische Flüchtlinge im Berliner Hauptbahnhof: eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind.

Ukrainische Flüchtlinge im Berliner Hauptbahnhof: eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind.

(Foto: picture alliance / SULUPRESS.DE)

Tausende Ukraine-Flüchtlinge kommen täglich in Berlin an. Sie zu versorgen, ist eine Mammutaufgabe, die nur dank der Hauptstadtbürger gestemmt wird. Die nächsten Wochen werden wohl noch schwieriger.

Etliche Züge und Busse mit Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine kommen täglich in Berlin an. Dass die Hauptstadt nicht alle aufnehmen kann und soll, steht außer Frage. Doch die Weiterverteilung ist noch nicht geregelt. So platzt besonders der Hauptbahnhof immer wieder aus allen Nähten und diejenigen, die vor den russischen Raketen fliehen, finden auch in Deutschland bislang keine Ruhe.

"Welcome Hall" hat der Berliner Senat das leuchtend weiße Zelt genannt, das vor einer Woche direkt vor dem Hauptbahnhof aufgebaut wurde. Drinnen lange Reihen mit Bierbänken, auf denen Menschen sitzen, Essen und Getränke vor, Kinder neben sich. Auch medizinische Versorgung gibt es, rund um die Uhr. Im Laufe eines Tages sollen in das Zelt 1000 Menschen passen, die hier versorgt werden, sich aufwärmen können, bevor es weitergeht; zum großen Ankunftszentrum im Stadtteil Reinickendorf, in eine der Massenunterkünfte auf dem Messegelände oder im alten Flughafen Tegel, in einen Bus, der in ein anderes Bundesland fährt.

Kinder, Haustiere, Rollkoffer, Sporttaschen

Ein Zelt für 1000 Menschen klingt viel, aber dann erlebt man die Ankunft eines einzelnen Zuges aus Polen, aus dem minutenlang Menschen auf den Bahnsteig strömen. "17:16 EC56 from Przemysl, Platform 14, !!1000 refugees!!" lautet ein Post vom Nachmittag auf dem Telegram-Chat, der das Freiwilligen-Netzwerk ständig über ankommende Züge und Busse informiert. 1000 Flüchtlinge - das sind Familien mit Kindern, Haustieren, Rollkoffern, Sporttaschen, Plastiktüten, das Gesicht gezeichnet von Sorge, Erschöpfung und immer öfter auch von Verletzungen.

Während die ersten Ankömmlinge in Deutschland vor etwa zwei Wochen zumeist noch vor der Bedrohung eines russischen Angriffs flohen, kommen inzwischen immer mehr aus Gebieten, in denen schon gekämpft wird. Sie kommen aus zerstörten Häusern, haben in Kellern gewacht, gehungert, sich ihren Weg gebahnt, an Trümmern, vielleicht auch an Toten vorbei. "In den letzten Tagen hatten wir oft Frauen, die gerade erst entbunden hatten, die sich quasi von der Geburtsklinik aus mit Baby zum Zug geschleppt hatten, die Kaiserschnittnarben noch frisch", sagt Diana Henniges von "Moabit hilft". Sie gehört zu einer der vielen Organisationen, die mit Freiwilligen vor Ort sind.

Diana Henniges sorgt sich, wie es in den kommenden Wochen weitergehen soll, wenn weitere Fluchtkorridore aus belagerten Städten geöffnet werden. Zwischen sechs und zehn Millionen Flüchtlinge werden in Europa erwartet. Viele davon werden Deutschland und damit vor allem Berlin ansteuern.

Plüschtiere, Stifte und Malbücher

Während die Abläufe im weißen Zelt gut geregelt sind, bleiben viele Menschen draußen, weil es schlicht keinen Platz mehr gibt. Sie suchen Informationen, Orientierung, einen Platz zum Sitzen im Verbindungsgang zwischen dem Untergeschoss des Bahnhofs und der U-Bahn-Station. Auch dort: Bierbänke, lange Tresen, mit Essensausgabe, ein Stück weiter verteilen ehrenamtliche Helferinnen und Helfer Seife, Klopapier und Shampoo. Die Unterstützer haben auch die Haustiere im Blick: Es gibt Hunde- und Katzenfutter, gespendete Halsbänder und Streu. Ein durch Glasscheiben geschützter Bereich lädt als "Kids Corner" die Kinder zum Spielen ein, gesammelte Plüschtiere, Stifte und Malbücher gibt es zum Mitnehmen.

Die Kinderecke lockt auch Leute an, die sich "länger als normal" in der Nähe aufhalten und mit möglicherweise schlechten Absichten, haben Helfende beobachtet. Die Kinderhilfsorganisation World Vision weist in einer am Dienstag erschienenen Studie auf ein hohes Risiko für Kinder auf der Flucht aus, in Deutschland in die Fänge von Ausbeutern zu geraten oder missbraucht zu werden. Gerade für Minderjährige, die allein ankommen, besteht diese Gefahr.

Kinder ohne Begleitung bleiben unterm Radar

Kinder suchen fast nie von sich aus Hilfe bei offiziellen Stellen, sondern versuchen, unterm Radar zu bleiben und sich in der Masse mitzubewegen. "Diese Kinder reihen sich in irgendeine Warteschlange mit ein und fallen gar nicht auf", beschreibt Helferin Henniges, "da braucht man Streetworker, die ausgebildet sind und einen Blick genau für diese Kinder haben, die sie gezielt ansprechen und denen sie professionell helfen können." Doch bislang gibt es dafür niemanden an den Berliner Ankunftsstellen, und die Hilfsorganisationen vor Ort warnen davor, so lange zu warten, bis der erste Fall bekannt wird.

Allein reisende Kinder gibt es mehr als man vielleicht erwartet. Die RTL-Stiftung etwa unterstützt derzeit mehr als 100 Waisenkinder, die in einer jüdischen Gemeinde in Berlin betreut werden. So engagiert und zugewandt die vielen Freiwilligen in den Ankunftsstellen auch arbeiten, sie können die schiere Zahl an Hilfesuchenden oft kaum bewältigen. Die Älteren sprechen selten Englisch und die Zahl der Russisch oder Ukrainisch sprechenden Helfer ist begrenzt. Meist bleibt nur die Übersetzungs-App auf dem Handy oder Bildersprache.

"Die Ankommenden wissen nicht, wo es Tickets gibt zum Weiterfahren, wo es Essen gibt, was sie machen müssen, um in Berlin eine Unterkunft zu bekommen, wie man sich etwa mit Behinderung helfen lassen kann", zählt Henniges auf. Es fehlt aus ihrer Sicht dringend an Profis. Sie sieht eine weitere Gefahr, wenn in den nächsten Wochen noch mehr Kriegsopfer am Berliner Hauptbahnhof ankommen sollten.

Sorge, dass plötzlich Panik ausbricht

"Lassen Sie in der Situation eine Mutter ihr Kind verlieren - das passiert ständig in dem Gewusel - und sie fängt an zu schreien, jemand kriegt Panik, dann haben wir ganz schnell den Loveparade-Effekt", sagt Henniges. Es brauche dort vor allem nachts Menschen, die krisensicher sind. "Die genau wissen, wo sie absperren müssen, damit nicht plötzlich Panik ausbricht." Doch die einzigen Hauptamtlichen im Untergeschoss sind die Sicherheitsleute des U-Bahnbetreibers und der Deutschen Bahn.

Gleichzeitig sind die Brandschutzbestimmungen wichtiger als der Schutz der Menschen. Die Lagerung und Ausgabe von Decken etwa ist inzwischen verboten, obwohl es ab Mitternacht im Bahnhof zugig und kalt wird. "Es wird hingenommen, wenn dort Kleinkinder nachts frieren, die auf irgendeiner Pappe schlafen. Weil es nicht zulässig ist, einen Heizbläser aufzustellen."

Etwa 400 Menschen verbringen auch die Nacht im Hauptbahnhof, zumeist, weil sie mit dem Zug weiterreisen wollen.

Etwa 400 Menschen verbringen auch die Nacht im Hauptbahnhof, zumeist, weil sie mit dem Zug weiterreisen wollen.

(Foto: IMAGO/Stefan Trappe)

Dass es sich in Berlin so staut, liegt auch daran, dass bislang die Flüchtlingsverteilung noch nicht bundesweit koordiniert ist. Am Montag forderte Verkehrsminister Volker Wissing die Länder auf, ihre Kapazitäten durchzugeben und verlässliche Zusagen zu machen. "Ich kann nicht Leute irgendwohin schicken, ohne zu wissen, ob sie dann vor Ort versorgt werden", sagte der Minister im Deutschlandfunk. Es sei "höchste Zeit, schneller zu werden".

Eher langsam schien das Innenministerium auf die Herausforderung zu reagieren. Den von vielen schon früh geforderten Krisenstab zur Koordinierung gibt es noch immer nicht. Erst vor wenigen Tagen teilte Ministerin Nancy Faeser mit, dass nun nach einem festen Schlüssel auf die Bundesländer verteilt werden soll.

Aus Henniges' Erfahrung ist es schwierig genug, die Ankommenden davon zu überzeugen, dass Berlin nicht die beste Wahl ist. "Viele Ukrainer kennen nur den zentralisierten Staat, der im städtischen Raum alles birgt, was man so braucht. Jemandem zu erklären, wo Töpel liegt, in Thüringen, und ihm dann auch noch zu verkaufen, dass es da toll ist, das ist eine echte Leistung."

Hauptamtliche und Freiwillige auf Augenhöhe

Flüchtlingskinder sind besonders schutzbedürftig.

Flüchtlingskinder sind besonders schutzbedürftig.

(Foto: picture alliance / SULUPRESS.DE)

Die Zusammenarbeit zwischen Hauptamtlichen und Freiwilligen läuft gut, das sagen beide Seiten. Man begegne sich auf Augenhöhe, anders als in der Flüchtlingskrise 2015. Da mussten die Ehrenamtlichen häufig geradezu darum bitten, helfen zu dürfen. Doch ohne Hunderten von Freiwilligen, die sich Tag für Tag in eilig online gestellte Schichtpläne eintragen, um dann in neonfarbener Warnweste Ankommende in Empfang zu nehmen, wäre an den vier Ankunftsstellen in Berlin wohl auch schon das Chaos ausgebrochen.

Flüchtlingshilfe bedeutet laut den Ehrenamtlichen nicht, Menschen von A nach B zu dirigieren, sondern sich auf Schicksale einzulassen. Wünsche und Pläne berücksichtigen, aber die Logistik im Blick zu behalten und wenn nötig für Töpel, Suhl oder Osnabrück zu werben. "Die Generation 40 plus versteht leider kein Englisch, und die müssen wir dann trotzdem überzeugen, jetzt in diesen Bus zu steigen", sagt Henniges. "Und zwar jeden einzeln."

Quelle: ntv.de

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