Schockierende Bilder Das Grauen von Butscha
04.04.2022, 18:56 Uhr
Welche Gräueltaten der russischen Armee die Bewohner von Butscha ertragen mussten, wird der Weltöffentlichkeit erst jetzt offenbar.
(Foto: picture alliance / AA)
Brutal ist der Krieg Russlands gegen seinen Nachbarn Ukraine vom ersten Tag an. Doch Butscha offenbart der Welt, wie bereitwillig Putins Truppen Menschenleben auslöschen. Die Antwort des Westens darauf steht noch aus.
Vielleicht hilft der Hund, um zu verstehen, was in Butscha geschehen ist. Der braune Mischling, der sich auf der Straße hingelegt hat, neben das umgestürzte Fahrrad seines vermutlichen Besitzers. Das Foto zeigt den Mann zur Hälfte unter dem Fahrrad liegend. Die Beine langgestreckt, sein Kopf zur Seite gedreht, das Handy ist auf den Gehweg gefallen. Der Hund liegt daneben und hält Wache.
Jeder Krieg fordert Menschenleben. Das Leben eines Fahrradfahrers, der mit seinem Hund unterwegs war, ist nicht mehr wert als das Leben eines Soldaten. Und trotzdem markiert es einen Unterschied, wenn nicht mehr Leichname in Uniform das Fortschreiten eines Krieges bezeugen, nicht mehr Zivilisten, die unter einstürzenden Gebäuden begraben oder von den Splittern einer Bombe getroffen werden.
In solchen Fällen, zigfach dokumentiert in den vergangenen fünf Wochen in Mariupol, in Charkiw und anderswo, lässt das Verhalten der angreifenden Truppen noch einen Spielraum zu. Wer möchte, kann annehmen, dass die Tode dieser Menschen nicht beabsichtigt waren. Dass die Absicht war, ein Gebäude zu zerstören, eine gegnerische Blockade, ein Munitionslager. Und unbeabsichtigt wären bei diesem Akt der Kriegsführung, der darauf zielte, einen militärischen Vorteil zu erringen, Menschen verletzt worden, zu Tode gekommen, die man nicht eigentlich hatte treffen wollen.
Die kalte Absicht hinter dem Töten
Menschen wie die hochschwangere junge Frau, die aus der Geburtsklinik in Mariupol noch gerettet werden kann, auf der Trage liegend, die Hüfte merkwürdig verdreht, man wird später diagnostizieren, dass ihr von den Explosionen die Beckenknochen zerborsten sind. Der Tod kurz danach wird ihr ersparen, die Geburt ihres leblosen Kindes ertragen zu müssen.
Die russische Seite wird sagen, in der Geburtsklinik sei die Zentrale ukrainischer Kampfeinheiten gewesen. Später wird es heißen, den dokumentierten Angriff habe es überhaupt nicht gegeben. Für die westliche Welt sind diese Darstellungen unerheblich, da Russland schon so oft seine Bereitschaft zu lügen unter Beweis gestellt hat. Aber die kalte Absicht, die Leben dieser jungen Frau und ihres ungeborenen Kindes zu zerstören, die musste man den russischen Truppen bei diesem Angriff vor dreieinhalb Wochen nicht zwangsläufig unterstellen.
Butscha nun scheint keinen Spielraum mehr zu lassen. Der Hund, den ein Fotograf für die Agentur Reuters abgelichtet hat, wie er neben dem toten Fahrradfahrer wacht, lässt keinen Spielraum. Nicht die rot lackierten Fingernägel der Frau, die auf der Straße hingestreckt ist. Ihre Hand bleich und wächsern, ein Zeichen, dass sie schon seit Tagen dort liegt. Und auch nicht die gefesselten Hände des Mannes in Jeans, vor einem Neubaugebiet zu Tode gekommen. Hübsche, moderne Reihenhäuser hinter ihm. Die Paletten mit Pflastersteinen für die Einfahrt stehen bereit, auf einem Stapel ist noch eine Kaffeetasse abgestellt.
In Butscha sind Menschen ermordet worden. Sie mussten sterben, weil andere Menschen beschlossen hatten, dass sie kein Recht zu leben hatten, dass man es ihnen nehmen dürfe. Überlebende des Massakers sagen, es seien russische Soldaten gewesen, die das beschlossen hatten.
Kein Strom, kein Wasser, abgeriegelt von der Welt
Butscha, ein Vorort im Nordwesten von Kiew, wird schon früh zum Ziel der russischen Truppen. Sie besetzen die 37.000 Einwohner zählende Stadt, da hat der Krieg erst vor zwei Tagen begonnen. Da reden Politikerinnen und Politiker im Westen noch davon, wie man in einer neuen Wirklichkeit aufgewacht sei - mit Krieg in Europa.
Für Butscha bedeutet die neue Wirklichkeit: kein Strom und kein Wasser mehr bei Temperaturen unter null Grad. Granaten reißen riesige Löcher in Wohnblöcke, von der Außenwelt ist die Stadt abgeriegelt. Darum dringt nichts aus der Stadt heraus, darüber, wie die russischen Soldaten dort wüten. Die Gräueltaten werden erst jetzt offenbar, nachdem die Truppen abgezogen sind.
Der Leiter der örtlichen Rettungsdienste zeigt der Nachrichtenagentur AFP das Massengrab hinter einer Kirche im Zentrum der Stadt. 57 Leichen habe man dort gefunden, manche nur teilweise mit Erde bedeckt, andere noch vollständig zu sehen. Eine Uniform trägt keiner der Toten. In einer einzigen Straße der Stadt zählen AFP-Reporter 22 Leichen in zivil. Wohnhäuser sind dem Erdboden gleich gemacht, Autos ausgebrannt.
Die Frauenkörper nackt, zum Teil verbrannt
Auf der Schnellstraße Richtung Kiew, das zumindest einen gewissen Schutz vor Angriffen geboten hätte, liegen Autowracks am Fahrbahnrand. Manche ausgebrannt und verlassen, um andere herum liegen die Leichen derer, die versucht haben, vor ihren Angreifern zu fliehen. Ziel war es, den Fluss Buchanka zu überqueren und dahinter das Gebiet zu erreichen, das noch von der Ukraine kontrolliert wurde.
Der Fotograf Mykhayl Palynchak läuft am Sonntag die Autobahn entlang und schießt Fotos von den Wagen und den Toten. Unter anderem dokumentiert er vier Leichen, einen Mann und drei Frauen, unter einer braunen Decke. Die Bilder lassen verborgen, was Palynchak hinterher laut dem britischen "Guardian" berichtet: Die Frauen seien nackt gewesen, ihre Körper zum Teil verbrannt.

Viele Frauen und Mädchen aus der Umgebung Kiews melden Vergewaltigungen und Misshandlungen.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Die abgezogenen russischen Truppen geben nicht nur den Blick frei auf die Toten in den Straßen, die ukrainische Behörden bislang auf 340 beziffern. Nach dem vorläufigen Ende der Besetzung melden sich auch viele Frauen und Mädchen bei der Polizei und bei Hilfsorganisationen. Sie bezeugen Überfälle mit vorgehaltener Waffe und Vergewaltigungen, vor Kindern begangen, auch Bandenvergewaltigungen.
Die Reaktion des Westens kann nur ein Anfang sein
Der russische Abzug aus Butscha lichtet ein Stück weit den Clausewitzschen “Nebel des Krieges”, der vieles im Ungewissen lässt. Die Gewissheiten, die sich der Weltgemeinschaft nun aufdrängen, sind ernüchternd und bedrängend: Putins Truppen agieren menschenverachtend, sie begehen Kriegsverbrechen, missbrauchen und töten Wehrlose.
Am Westen ist es nun, auf diese Barbarei eine Antwort zu geben. Die Europäische Union sendet Ermittler in die Ukraine, um den lokalen Behörden dabei zu helfen, die Kriegsverbrechen gerichtsfest zu dokumentieren. Auch Europol und die Strafrechtsagentur Eurojust sollen helfen. Die USA streben an, Russland vom UN-Menschrechtsrat zu suspendieren. Auch, weil in Wladimir Putins Augen ohnehin die halbe Welt russophob ist, würden diese Schritte wohl nur am Rande seiner Wahrnehmung ablaufen. Sie können darum nur ein Anfang sein.
Quelle: ntv.de