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Gesprengter Ukraine-Staudamm "Das war eine Erstsemesterübung"

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80 Orte in Cherson sind von Überflutungen bedroht.

80 Orte in Cherson sind von Überflutungen bedroht.

(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Am Morgen zerstört eine Explosion den Kachowka-Staudamm in der Ukraine. Wassermassen dringen in die Region Cherson. Tausende Menschenleben sind bedroht. In der ZDF-Talkshow Markus Lanz kommen zwei Experten zu Wort, die von einem Anschlag sprechen.

Die Bilder sind kaum zu fassen. Riesige Wassermassen dringen aus dem Stausee des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine, fließen in den Dnjepr, überfluten die Gegend um die Stadt Cherson. Tausende Menschen müssen aus der Region evakuiert werden. Am Morgen hatte eine Explosion den Staudamm erschüttert und ein riesiges Loch in die Dammmauer gerissen. In der ZDF-Talkshow Markus Lanz kommen am Dienstagabend zwei Experten zu Wort, die die Lage zu erklären versuchen.

Der Staudamm ist einer der größten Europas. Er ist gut 30 Meter hoch und mehr als drei Kilometer lang. Der dadurch gebildete Stausee fasst bis zu 18 Milliarden Kubikmeter Wasser, neunmal so viel Volumen wie der Chiemsee. Diese Wassermassen bedrohen nun etwa 80 Orte im Oblast Cherson. Die Stadt Nowa Kachowka auf der von Russen besetzten Seite des Dnjepr ist überflutet. In sozialen Netzwerken wird von Stromausfällen berichtet. Es fehlt an Trinkwasser. Die Behörden haben den Notstand ausgerufen. Bei Markus Lanz erklärt der Magdeburger Professor für Hydrodynamik, Daniel Bachmann, dass eine Reparatur des Staudammes unter diesen Umständen nicht möglich sei.

Seine Kollegen und er haben auf Basis eines hydrodynamischen Modells berechnet, was in den nächsten Tagen passieren kann. Er erwartet, dass das Wasser in den betroffenen Ortschaften um bis zu 30 Zentimeter pro Minute steigen kann. Es könnte mit einer Geschwindigkeit von zwei bis drei Metern pro Sekunde fließen, also etwas schneller als ein normaler Mensch joggt. Nach ihrem theoretischen Modell könnten bis zu 19.000 Menschenleben akut bedroht sein.

Inzwischen sind erste Hilfsmaßnahmen angelaufen. Der Staudamm liegt am Dnjepr, dessen rechtes Ufer sich in ukrainischer Hand befindet. Hier werden seit Dienstag die Ortschaften evakuiert. Doch das linke Dnjepr-Ufer liegt in dem von Russland besetzten Gebiet der Ukraine. Es liegt tiefer, und darum sind dort die Menschen noch mehr bedroht. Über deren Lage ist wenig bekannt.

Unfall oder Sprengung?

Für die Ursache der Katastrophe gibt es mehrere Erklärungen. Einige Experten sprechen von einem gewöhnlichen Unfall. Bachmann glaubt das nicht. "Eigentlich versagt so ein Bauwerk nicht einfach so", sagt er. "So etwas kündigt sich normalerweise vorher an. Man hat Messstellen und Sicherheitsvorrichtungen an so einem Stausee." Allerdings war der Staudamm seit Monaten ein Teil der Front. Ob in diesem Fall die Messeinrichtungen auch wie im Frieden bedient worden sind, kann Bachmann nicht sagen. Dennoch: Von einem "rein technischen Versagen" geht er nicht aus.

Auch Politikwissenschaftler und Sicherheitsexperte Christian Mölling glaubt nicht an einen Unfall. Er geht von einer gezielten Sprengung aus. Hier sieht er den Vorteil klar bei Russland. "Wobei es einige Kollegen gibt, die von der Idee ausgehen, dass der Staudamm nur ein bisschen aufgesprengt werden sollte, um das Wasserniveau anzuheben und damit das Übersetzen ukrainischer Kräfte unmöglich zu machen." Wenn das stimmt, wäre der Staudamm quasi aus Versehen gesprengt worden. Das ist durchaus möglich, sagen Experten, denn die Russen haben dort Minen deponiert. Bleibt allerdings eine Frage: Sollte die russische Armee die Standorte ihrer eigenen Minen nicht kennen?

Ein Kriegsziel der Russen könnte sein, die ukrainische Armee am Überwinden des Dnjepr zu hindern. Doch der ist in der geplanten ukrainischen Offensive eher ein Nebenkriegsschauplatz. Dennoch hätten die ukrainischen Kräfte nach einer Überquerung versuchen können, russische Stellungen anzugreifen und die Truppen vor Ort zu binden, so Mölling. Das ist nun nicht mehr möglich – und auch nicht mehr nötig. Denn die Wassermassen zerstören nun auch die russischen Stellungen in der Region.

Dass die ukrainische Armee für die Sprengung der Talsperre verantwortlich ist, hält Mölling für unwahrscheinlich. "Sie könnte so allerdings ihre Ziviloperationen vereinfachen", erklärt er. "Aber dann würden sie ihre eigenen Menschen gefährden. Dass die Regierung vor der internationalen Gemeinschaft und ihrem eigenen Volk rechtfertigen kann, dass dies ein angemessenes Kriegsmanöver war, bezweifle ich."

Beide Seiten müssten nun die militärische Lage neu bewerten, sagt Mölling. Und die aktuelle Situation könne niemandem einen Vorteil bringen. "Wenn ich das mal so sagen darf: Vom militärischen Standpunkt her war das eine Erstsemesterübung", so der Experte abschließend. Inzwischen sind übrigens Berichte US-amerikanischer Geheimdienste bekannt geworden. Sie geben Hinweise auf eine Schuld der russischen Armee an der Sprengung des Kachowka-Staudamms.

Quelle: ntv.de

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