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Das Wichtigste zum Dammbruch Bei Cherson gibt es keine Front mehr, nur noch Schlamm

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Der Staudamm Kachowka im Süden der Ukraine ist vollständig zerstört worden.

Der Staudamm Kachowka im Süden der Ukraine ist vollständig zerstört worden.

(Foto: via REUTERS)

Mitten in der Nacht bricht der Staudamm Kachowka im Süden der Ukraine durch. Gewaltige Wassermassen überfluten Dutzende Orte. Haben die Russen die Anlage in die Luft gesprengt? Oder war es eine Sabotageaktion der Ukraine, wie der Kreml behauptet? Und wurde der Damm überhaupt absichtlich zerstört? ntv.de beantwortet die wichtigsten Fragen.

Was ist passiert?

In dem von Russland besetzten Gebiet im Süden der Ukraine ist in der Nacht zu Dienstag der wichtige Kachowka-Staudamm zerstört worden. Die Ukraine wirft Russland vor, die Anlage in die Luft gesprengt zu haben. Moskau behauptet wiederum, es handele sich um einen Sabotageakt der ukrainischen Armee. Nach ukrainischen Angaben befanden sich rund 16.000 Einwohner in der kritischen Zone in unmittelbarer Nähe des Staudamms. Mehrere Dörfer sind bereits vollständig überflutet. In insgesamt rund 80 Siedlungen besteht Überschwemmungsgefahr, darunter die Großstadt Cherson am rechten Ufer des Flusses Dnipro, in der vor dem Krieg knapp 300.000 Einwohner lebten.

Betroffen dürften aber auch die von den russischen Truppen besetzten Gebiete am linken Ufer des Flusses sein. Während die ukrainischen Behörden damit beschäftigt sind, die Einwohner am rechten Ufer des Dnipro in Sicherheit zu bringen, sieht die von Russland installierte Besatzerverwaltung der Region Cherson jedoch nach eigenen Angaben keine Notwendigkeit für eine größere Evakuierung der Bevölkerung am linken Ufer.

Welche Bedeutung hatte der Staudamm?

Der Damm war 30 Meter hoch und 3,2 Kilometer lang. Er wurde 1956 als Teil des Wasserkraftwerks Kachowka errichtet. Der dadurch gebildete Stausee fasst rund 18 Milliarden Kubikmeter Wasser und versorgt mehrere Kraftwerke, darunter das AKW Saporischschja mit Wasser. Mehrere Städte in der Region, aber auch die von Russland annektierte Halbinsel Krim werden über zahlreiche Kanäle mit Süßwasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert. Russland hatte den von der Ukraine nach der Krimannexion im Jahr 2014 gesperrten Nord-Krim-Kanal unmittelbar nach dem Einmarsch im Februar 2022 wieder geöffnet. Der Stausee ist außerdem für die Landwirtschaft von großer Bedeutung. Rund 200.000 Hektar Ackerland in der Region werden über die Kanäle bewässert.

Gab es Vorzeichen für eine Zerstörung des Damms?

Erst eine Woche vor der Zerstörung des Staudamms veröffentlichte der Kreml eine Verordnung, die sich mit der Anwendung der russischen Gesetzgebung auf die besetzten Gebiete in der Ukraine befasst. Diese besagt unter anderem, dass bei "Unfällen in gefährlichen Produktionsanlagen und Wasserbauwerken, die durch militärische Aktionen, Sabotage und terroristische Handlungen verursacht werden", keine Ermittlungen mehr durchgeführt werden müssen. Die Verordnung wurde am 30. Mai veröffentlicht und trat am darauffolgenden Tag in Kraft.

Bereits im November vergangenen Jahres bestand die Sorge, dass die russischen Truppen bei ihrem Abzug vom rechten Dnipro-Ufer den Kachowka-Damm sprengen könnten, um der Ukraine beim Rückzug einen größtmöglichen Schaden zuzufügen. Damals griff Russland jedoch nicht zu dem Schritt. Unmittelbar nach dem Abzug der Russen begann aber ein massiver Rückgang des Pegels in dem Stausee.

Die Politik-Zeitschrift "Osteuropa" vermutete im März, dass die russische Besatzerverwaltung den Wasserspiegel des Stausees gezielt abgesenkt haben könnte, "um bei bestimmten Entwicklungen des Kriegsgeschehens die Staumauer zu sprengen". Das Kalkül dahinter: Die Flutwelle in den russisch-besetzten Gebieten am linken Dnipro-Ufer wäre bei niedrigem Wasserstand weniger verheerend als bei vollem Füllstand des Sees. "Die Folgen für die Menschen im Südosten der Ukraine und die gesamte ukrainische Wirtschaft wären jedoch katastrophal", hieß es im "Osteuropa"-Bericht.

Seit April lässt sich jedoch ein kontinuierlicher Anstieg des Pegels beobachten. Dafür kann es zwei Gründe geben: Entweder rückte Russland von dem mutmaßlich ursprünglichen Plan ab und ließ den See volllaufen, um bei der Sprengung einen maximalen Schaden zu verursachen. Denkbar ist aber auch, dass der Pegel unkontrolliert anstieg, weil die Russen das Wasserkraftwerk nicht ausreichend gewartet haben. Sollte dies der Fall sein, könnte man sogar vermuten, dass der Damm nicht absichtlich, sondern durch die mangelhafte Wartung zerstört wurde (mehr dazu im letzten Punkt).

Wer oder was hat den Dammbruch verursacht?

Die russische Seite könnte den Damm gesprengt haben. Die Region am Staudamm gehört zu dem Gebiet, das russische Truppen derzeit besetzt halten. Anders als die Ukrainer hatten sie also Zugang zum Gelände. "Wir wissen aus der Vergangenheit, dass die Russen den Staudamm vermint haben. Das haben sie uns quasi wissen lassen", sagte der Militärexperte Markus Reisner dem NDR. Eine Option wäre, dass Russland diese vorbereiteten Minen nun gezündet hat.

Eine zweite Möglichkeit wäre eine Zerstörung des Staudamms durch die Ukrainer. Deren Truppen hätten aus der Ferne angreifen müssen. Da der Damm aber ein sehr massives Bauwerk ist, "hätte der reine Einschlag einer Artilleriegranate hier einen überschaubaren Schaden", so Reisner.

Auch Oberst a.D. Wolfgang Richter hält einen Angriff mit Artillerie für sehr unwahrscheinlich. "Solche Schläge sind Flächenfeuer. Wenn eine Batterie schießt, würde das eine Fläche von 200 mal 300 Meter umfassen", sagt Richter ntv.de. "Man müsste also auch andere Einschläge sehen und eine Explosion direkt am Staudamm wäre ein Zufallstreffer."

Allerdings hat die Ukraine aus Sicht Richters eine andere Waffe, die einen solchen Angriff aus der Ferne mit hoher Präzision durchführbar macht: HIMARS, den Mehrfachraketenwerfer aus den USA. Im Juli letzten Jahres führten die ukrainischen Truppen präzise HIMARS-Angriffe auf ein russisches Depot in Nowa Kachowka und den Gefechtsstand des 22. Armeekorps der Russen durch. "Damit gelang es den ihnen, sehr zielgenau eine ganze Gruppe hochrangiger russischer Offiziere zu töten", erinnert Richter.

Auch würde eine Rakete ausreichen, um den Staudamm im aktuellen Ausmaß zu schädigen. "Dies haben die Ukrainer bei zwei weiteren HIMARS-Angriffen auf die Antoniw-Brücke über den Dnjepr bei Cherson bewiesen. Sie wurde im Juli 2022 so schwer beschädigt, dass sie für Fahrzeuge nicht mehr passierbar ist." Der Militärexperte Thomas Wiegold dagegen hält HIMARS für zu schwach, um einen solchen Schaden anzurichten.

Zusammengefasst: Russland hätte es sehr einfach gehabt, den Staudamm zu zerstören, doch laut Richter hatten auch die Ukrainer die Möglichkeit dazu. Keine der Optionen lässt sich offenbar derzeit sicher ausschließen. Doch lässt sich aufzeigen, welche der beiden Kriegsparteien den größeren Nutzen von der Flutwelle hat.

Wie nutzt die Flutwelle den Russen, wie den Ukrainern?

Durch die Welle wird die Möglichkeit "einer umfangreichen militärischen Anlandung der Ukrainer verhindert, die offenbar versucht haben, in kleinen Gruppen amphibisch - also vom Wasser aus - im Süden von Cherson vorzustoßen", sagt Militärexperte Reiser ntv.de. Um das zu verhindern, "nimmt man mit teuflischem Kalkül weiträumige Zerstörungen und Opfer in Kauf".

Zwar wäre eine solche Überraschungsoperation über den Dnipro hinweg aus Sicht von Wolfgang Richter ein hoch riskantes Unternehmen, da der Fluss an jener Stelle mehr als einen Kilometer breit ist. "Man kann also den Fluss nur überschreiten, indem man einige Pontonbrücken einsetzt. Der Angriff würde sich damit auf drei bis vier Übergangsstellen konzentrieren", sagt Richter. Diese würden zu Angriffszielen für die russische Seite. "Allerdings haben wir Übungen der Ukrainer gesehen, die genau solch ein Vorgehen auf großen Truppenübungsplätzen trainiert haben." Sollten die Ukrainer einen solchen Angriff über den Fluss geplant haben, wird der nun unmöglich - ein Vorteil für die russischen Truppen.

Konsequenzen wird der Dammbruch aber auch langfristig haben, und zwar ebenfalls zum Nachteil der Ukrainer: Denn der Fluss bekommt durch die Flutwelle bis zur Mündung eine derartige Breite und wird mit so großer Geschwindigkeit strömen, dass eine Überquerung für Militärfahrzeuge auf absehbare Zeit nahezu unmöglich wird. Und auch die angrenzenden Felder werden verschlammen und für eine lange Zeit von Panzern nicht mehr befahrbar sein. "Bis diese Gebiete wieder trocken sind, vergehen Wochen oder sogar Monate", so Richter. Es fehlt darum ab sofort die Möglichkeit für die Ukrainer, parallel zum Donbass im Nordosten eine zweite Front im Südwesten aufzumachen, hier etwa ein Ablenkungsmanöver zu starten, um den Gegner zu verwirren.

Ein deutlicher Nachteil, denn ein wichtiges Element jeder Offensive sind Täuschungsmanöver: "Den Feind abzulenken, die Front zu verlängern und die schwach geschützten Stellen zu finden, an denen man seine Kräfte dann überraschend konzentriert und mit Feuer und Bewegung versucht, durchstoßen", so beschreibt es Experte Richter. Das müsste das Ziel der Ukrainer sein, um Territorium zurückzugewinnen.

Was also die ukrainische Seite in Belgorod zuletzt geschafft hatte, nämlich russische Kräfte in einer Region zu binden, in der bislang noch nicht gekämpft worden war und damit die Front zu verlängern, das büßt sie nun im Südwesten wieder ein. Hier verkürzt sich die Front, hier wird ein Angriff der Ukrainer über den ganzen Sommer nahezu unmöglich sein. Damit sei die Front zwar nicht aufgehoben, "aber man kann theoretisch von dort auch Kräfte abziehen und als Reserve an anderen Stellen einsetzen", sagt der Oberst a.D. Gut für die Russen, die schon zuvor Schwierigkeiten hatten, sich entlang der über 1000 Kilometer langen Front so aufzustellen, dass sie Rückeroberungsversuche der Ukrainer abwehren könnten.

Noch gibt es also keine Beweise für die klare Schuld der Russen oder Ukrainer am Dammbruch. Klar hingegen ist ganz unabhängig von den vielen Opfern, die die Flutkatastrophe fordern wird: Militärisch gesehen liegt ihr Nutzen klar bei den Russen.

Kann die Zerstörung auch durch schlechte Wartung verursacht worden sein?

Auch darüber wird derzeit gerätselt. Für mangelhafte Wartung könnte sprechen, dass der Pegel in dem Stausee in den letzten Wochen sehr stark auf ein ungewöhnlich hohes Niveau angestiegen ist. Das zeigt etwa diese Grafik, die auf Daten einer gemeinnützigen französischen Organisation zurückgeht.

Der US-Journalist Geoff Brumfliel, der für das US-Hörfunknetzwerk NPR arbeitet, vermutet, dass Russland sich nicht ausreichend um den Damm gekümmert habe. "Sie ließen einige Schleusentore offen, wodurch der Wasserstand zu Beginn des Winters sank. Aber nach den Regenfällen im Frühjahr ließen die Schleusen nicht mehr genug Wasser durch", twitterte er. Anfang Mai habe der Pegel einen so hohen Stand erreicht, dass Wasser über die Schleusentore floss.

Brumfliel weist darauf hin, dass der Damm vor dieser Belastung bereits durch zwei frühere Vorfälle beschädigt worden sei. Im vergangenen Herbst habe es einen Angriff gegeben. Russland hatte die Ukraine dafür verantwortlich gemacht. Diese wies die Vorwürfe zurück. Später hätten - wahrscheinlich russische - Einheiten einen Teil der Fahrbahn über dem Damm in die Luft gejagt. Vor wenigen Tagen sei ein Teil der Fahrbahn durch das Wasser weggespült worden, so Brumfiel. "Das deutet für mich darauf hin, dass es vor dem, was heute passierte, strukturelle Probleme in der Einrichtung gab", twitterte er.

Das heißt nicht, dass der Damm zweifelsfrei durch schlechte Wartung und nicht etwa durch eine Sprengung zerstört worden ist. Ein strukturelles Versagen könne aber nicht ausgeschlossen werden, so Brumfiel - "jedenfalls noch nicht".

Quelle: ntv.de

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