Präsident im gespaltenen Land "Die Franzosen wählen mit den Zähnen"
06.05.2017, 21:06 Uhr
Pest oder Cholera? Viele Franzosen wählen lediglich das kleinere Übel.
(Foto: imago/Paulo Amorim)
Der amtierende Präsident ist historisch unbeliebt. Doch der anstehende Machtwechsel im Élyséepalast stimmt die Franzosen nicht gerade euphorisch. Die meisten wünschen sich weder einen Präsidenten Macron noch eine Präsidentin Le Pen. Was bleibt, ist Resignation - oder Wut.
Feiner Nieselregen treibt verirrte Touristen ins Canon des Gobelins - ein traditionelles Eck-Café im 13. Arrondissement von Paris. Das Quartier am linken Ufer der Seine war einst ein Arbeiterviertel. Der Bürgermeister ist noch heute Sozialist. Gobelins hat Charme, aber wenig Glamour. Touristen sind hier eher die Ausnahme. Während ein Gast am Nebentisch umständlich seine Faltkarte von Paris auseinanderklappt, nimmt Monsieur Dupont* direkt am Schaufenster Platz. Er schaut ein bisschen missmutig drein. Seit den Terroranschlägen vom 13. November 2015 setze er sich eigentlich nicht mehr so gern an die Scheibe, sagt er. "Sie wissen schon - wegen der Leute, die da erschossen wurden." Ganz vorn ist man eben ein leichteres Ziel. Logisch.
Monsieur Dupont geht auf die Rente zu, versteht sich mehr als Pariser denn als Franzose, und er ist keineswegs paranoid - das zeigt allein die Festnahme eines Ex-Soldaten im nordfranzösischen Evreux keine 24 Stunden zuvor. Der Festgenommene soll offenbar im Namen des Islamischen Staates (IS) einen Anschlag geplant haben. Immer wieder wird Frankreich auf diese Weise an seine Verletzlichkeit erinnert. Der Ausnahmezustand, sagt Dupont, werde von den Leuten eher als Wort empfunden. Viel präsenter sei diese ständige Gefahr eines neuen Angriffs. Das Meiden von Fensterplätzen ist sein Kompromiss an die Angst - jenes diffuse Gefühl der Unsicherheit, aus der Marine Le Pens Front National (FN) ein gutgehendes Geschäft gemacht hat. "Die Franzosen wählen nicht mit dem Gehirn, sie wählen mit den Zähnen", sagt Monsieur Dupont.
Die Sehnsucht nach dem starken Mann
Was das bedeutet, zeigt sich in Moselle im Nordosten des Landes. Dort lebten die Menschen über Generationen hinweg von Steinkohle und Stahl. 2004 machte in Creutzwald die letzte Zeche dicht. Fast jeder dritte Einwohner in der Region stimmte in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl für Le Pen. Über Sitzplätze im Café machen sich diese Menschen keine Gedanken, auch nicht über die Frage, ob islamistischen Gefährdern die Staatsbürgerschaft entzogen werden soll. Der Terror ist weit weg. Sie wählten die FN-Chefin, weil sie der Europäischen Union den Krieg erklärt hat. "Den Leuten wurde versprochen, dass die EU die Probleme schon lösen wird", sagt Pierre Pokiz. Er wuchs in Moselle auf. "Was sie aber bekommen haben, waren Deindustrialisierung, steigende Armut und untätige Politiker, die ihnen sagten, dass die Globalisierung nun mal so funktioniert und dass das nicht ihre Schuld ist."
Schon mit 16 Jahren trat Pierre in den Front National ein. Ein Parteibuch besaß er, bevor er überhaupt wählen durfte. Moselle ist seine Heimat. Und Pierre ist wütend - auf Brüssel, auf die in seinen Augen unehrlichen Republikaner und auf den liberalen Emmanuel Macron, der "durch seine milliardenschweren Freunde 90 Prozent der Medien hinter sich" habe. Der Politikstudent sieht sich selbst als Gaullisten. Gerade in diesen Tagen ist die Verehrung groß für Charles de Gaulle, den "größten Franzosen des 20. Jahrhunderts", wie Pierre betont. Dass der Staatsmann seinerzeit auf die Einheit der Franzosen setzte - und zwar egal welcher Herkunft? Et alors! Es geht um die Ehre Frankreichs. "De Gaulle wäre entsetzt darüber, was die Konservativen, die vorgeben 'Gaullisten' zu sein, verteidigen", klagt Pokiz. "Keine Grenzen, kein eigenes Geld, keine Entscheidungsgewalt."
Was viele Franzosen wollen, ist ein zweiter de Gaulle. Ein starker Mann - "einer, der in Brüssel auf den Tisch haut". Das glaubt auch Monsieur Dupont. Dieser Erwartung haben weder François Hollande noch Nicolas Sarkozy gerecht werden können. Der eine zu konform, der andere schlicht verhasst. Auf die Frage, für wen er selbst bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl gestimmt hat, windet sich der 66-jährige Professor sichtlich - ganz so, als würde er ahnen, dass seine Wahl nicht recht passen will zu einem anerkannten Intellektuellen, mit einem Häuschen an der Loire und einem verstaubten Parteibuch der Sozialisten in der Schreibtischschublade. Dann verrät er es aber doch - mit gedämpfter Stimme. "Ich habe Mélenchon gewählt", sagt Monsieur Dupont.
Der Aufstieg der Antiliberalen
Natürlich ist die Wahl Mélenchons keineswegs ein Sakrileg. Überraschend viele Franzosen, fast jeder fünfte, wollten den linken Querkopf mit einer glühenden Verachtung für Europa und die deutsche Bundeskanzlerin in der Stichwahl sehen. Monsieur Dupont weiß auch, warum: Der Linkaußen verkörpere nicht nur die "enttäuschte Liebe" vieler Franzosen zu EU, sondern vertrete auch die wachsende Anzahl von Antiliberalen im Land - diejenigen nämlich, die zwar genug haben von Kapitalismus und Globalisierung, aber weit entfernt sind von der hasserfüllten Ideologie des Front National. Nun steht Mélenchon nicht mehr zur Wahl. Und die Frage ist: Was werden seine Anhänger tun? Es gebe viele "orientierungslose Linke", warnt Dupont. Und eine Partei wie der Front National schnappe sich Wähler auch unter ihnen.
Sollten die Meinungsinstitute richtig liegen, wird der wirtschaftsliberale Macron versuchen müssen, den Erwartungen an den neuen starken Mann im Élysée-Palast zu genügen - und dies ohne eine Partei als stabile Basis im Parlament. Bei diesem Gedanken setzt der Professor eine resignierte Miene auf. Die Franzosen, sagt er, wählten schon seit Jahrzehnten strategisch. Das letzte Mal, dass er in einer Stichwahl aus Überzeugung für einen Kandidaten gestimmt habe, sei "bestimmt 20 Jahre her". Bei der Stichwahl gehe es eigentlich immer nur darum, Schlimmeres zu verhindern. "Ich werde Macron wählen, obwohl mir sein Programm missfällt", sagt er. "Aber wenn ich an die nächsten fünf Jahre denke, dann ist das schon beunruhigend, beklemmend sogar."
Pierre strotzt dagegen vor Tatendrang. Der 19-Jährige gehört mittlerweile zum Wahlkampfteam vom Parteivize des Front National, Florian Philippot. Schon am Montag nach der Wahl will er für den Kandidaten durch seine Heimatregion Moselle ziehen - denn im Juni stehen die Parlamentswahlen an. "Und niemand kann ohne eine Mehrheit unser Land regieren", sagt er - als wäre es eine Warnung an Macron.
*Name geändert
Quelle: ntv.de