Experte über Kämpfe im Donbass "Die Russen machen nichts aus ihren Erfolgen"
28.05.2023, 11:20 Uhr Artikel anhören
Die Söldnertruppe von Wagner-Chef Jewgeni Progischin rückt nach und nach aus Bachmut ab.
(Foto: IMAGO/UPI Photo)
Die Ruinenstadt Bachmut ist von den Russen eingenommen, doch wie nutzen sie das? Militärexperte Wolfgang Richter über fehlende Folgen und warum die Russen ratlos scheinen.
ntv.de: Die Einnahme Bachmuts ist nun eine Weile her, die Kämpfe waren erbittert. Was passiert dort seitdem?
Wolfgang Richter: Im Raum Bachmut ist noch nicht zu sehen, dass die russischen Truppen den Erfolg, den sie in der Stadt selbst hatten, für weitere Schritte nutzen können. An den Flügeln außerhalb der Stadt stehen nach wie vor ukrainische Streitkräfte mit dem Ziel, genau das zu tun, was zuvor die Russen so lange versucht haben: mit Überflügelung die Stadt einzuschließen, die russischen Truppen einzukesseln. Südlich und nördlich der Stadt wird also derzeit heftig gekämpft, weil beide Seiten versuchen, dort noch Gewinne zu machen.
Ansonsten hat die Einnahme Bachmuts den russischen Truppen bislang nicht genutzt?
Die Russen konzentrieren sich ganz eindeutig auf das Gebiet Donezk, in dem auch Bachmut liegt. Sie fokussieren auf den Donbass generell und glauben, sie könnten sich mit viel Einsatz und Verlusten dort durchbohren. Doch haben sie es bisher nicht vermocht, den Erfolg in Bachmut auch operativ zu nutzen, sonst hätten sie sofort in die Bewegung gehen und Raum gewinnen müssen.

Wolfgang Richter ist Wissenschaftler und Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie Oberst a.D.
In welcher Form müsste so etwas passieren?
Sie müssten die Angriffsverbände schon bereitgestellt haben, um schnell in die Tiefe vorzustoßen. Tatsächlich ist es aber so: Wenn die Russen einige weitere Ruinen erobert haben, passiert danach nichts. Anstatt den Erfolg auszunutzen, weiter vorzustoßen, die ukrainische Logistik zu zerschlagen, an die Hauptquartiere heranzugehen, findet nichts statt. Die Russen machen nichts aus ihren Erfolgen.
Wie ist das zu erklären?
Im Raum Bachmut stehen nicht nur Wagner-Trupppen, sondern auch russische Fallschirmjäger. Die ukrainische Armee hat denen nun eigene Fallschirmjäger entgegengestellt, es treffen dort also gegnerische Fallschirmjägerverbände aufeinander. Das sind zwar Elitetruppen, sie eignen sich aber in erster Linie für den Stadtkampf, in bebautem Gelände oder im Wald, weniger für offensive Angriffsbewegungen. Dafür sind sie zu leicht ausgerüstet. Ihnen fehlen Artillerie und starke Panzerkräfte. Ein weiteres Problem: Die russischen Streitkräfte entwickeln vor Ort, in den unteren Ebenen, keine Initiative. Alles wird von oben zentral geplant und alles ist auf Abnutzung und Stellungskrieg eingestellt. Dadurch kommen die Truppen nicht in Bewegung, sie bleiben statisch in dem, was sie tun.
Die ukrainischen Truppen sind im Vergleich deutlich beweglicher, oder?
Generell verstehen die Ukrainer es besser, Feuer und Bewegung aufeinander abzustimmen und vor allem Aufklärung und Artillerieschläge rasch zu koordinieren. Die Ukrainer sind in der Lage, ihre Aufklärungsergebnisse manchmal innerhalb von Sekunden, allenfalls Minuten zu nutzen und ihre Ziele entsprechend treffgenau anzugreifen. In der Abstimmung des Komplexes Drohne-GPS-Artilleriefeuer waren Kiews Streitkräfte von Anfang an gut.
Sollten die Russen in Bewegung komme, könnte ein Vorstoß in westliches Gelände stattfinden?
Bachmut ist Teil des vorbereiteten Stellungssystems der Ukrainer im Donbas. Das Gelände 30 bis 40 Kilometer westlich davon ist relativ flach und wird landwirtschaftlich genutzt. Das ist also insgesamt ein günstiges Angriffsgelände bis zu den nächsten Verteidigungslinien mit den größeren Städten Kramatorsk und Sloviansk. Dort würden sich vermutlich Schlachten wie die um Bachmut wiederholen. Allerdings ist dort bereits der Westrand des Donbass und das Hauptquartier der ukrainischen Ostarmee. Es würde dann also um eine wichtige Stellung gehen, die nicht nur operative Bedeutung hat.
Sondern?
Ihr Verlust könnte auch strategische Auswirkungen haben, da es ja Ziel der Russen ist, das schon annektierte Gebiet in Gänze auch militärisch zu besetzen. Außerdem könnte der Verlust des Raumes zwischen Bachmut und Kramatorsk einen etwaigen ukrainischen Gegenangriff nach Süden gefährden, weil die Russen dann gegen den Rücken der ukrainischen Angriffsverbände vorgehen könnten.
Wie steht es in anderen Abschnitten der Front?
Im Südwesten und Süden der ukrainischen Frontlinie, im Bereich Cherson und Saporischschja, führen die russischen Streitkräfte nur defensive Operationen durch, sie bereiten sich dort also auf die Verteidigung vor. Es gibt allenfalls kleinere Aufklärungsvorstöße, vorwiegend vonseiten der Ukrainer.
Und im Nordosten?
In der Region um Charkiw, Sumy und dem russischen Belgorod, der Frontlinie im Nordosten, war es lange Zeit eher ruhig, obwohl täglich von Artilleriefeuer berichtet wird. Dort stehen sich die Ukrainer und die Russen direkt an den Staatsgrenzen gegenüber. Die Vorstöße der sogenannten Freiwilligenkorps im Gebiet Belgorod sahen nicht nur nach Propaganda und dem Versuch aus, das russische Selbstvertrauen zu destabilisieren, sondern das kann durchaus auch ein Aufklärungsvorstoß gewesen sein, der mit Blick auf die erwartete Gegenoffensive testen sollte, wie stark die Russen dort in der Verteidigung stehen. Auch wenn sich die Frontlinien nach den erwarteten Gegenoffensiven im Sommer noch um einige Kilometer verändern dürften, erwarte ich jedoch keine strategische Kriegswende in naher Zukunft, die zu einem Sieg der einen oder anderen Seite führen wird. Die verfügbaren Ressourcen beider Seiten lassen eher den Schluss zu, dass sich der Krieg in die Länge ziehen und weitere hohe Verluste kosten wird.
Mit Wolfgang Richter sprach Frauke Niemeyer
Quelle: ntv.de